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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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Hals, viel zu dünn, um den Bogen zwischen Daumen und Zeigefinger auszufüllen, der Hals eines Kindes. Helene, hatte die Stimme gesagt, lautlos, Helene. Ein Schluchzen war aus seiner Brust plötzlich emporgebrochen, ein Weinen, es hatte seine Schultern geschüttelt, hatte ihm Tränen in die Augen getrieben; am Sterbebett von Helene hatte er nicht geweint und nicht an ihrem offenen Grab, nun wurde er vom Weinen gepackt, endlich, und da er so sehr überrascht worden war von seinem Schmerz, so sehr preisgegeben seinem Schluchzen, da er seine bleierne Selbstbeherrschung endlich verloren hatte, waren auch seine ruhigen, väterlich liebevollen Finger seinem Willen entglitten, die Finger eines Leidenden, sie waren weitergeglitten auf eine Taille, auf irgendeine, waren hingeschmiegt an die Knospe einer Mädchenbrust; sein Körper, vom zu kurzen linken Bein bis dahin mühsam gestützt und nun durch denAusbruch des Schmerzes endlich aus seiner Starre befreit, war hingefallen auf das Sofa neben den anderen Körper. Nein, hatte eine Stimme gerufen, eine Mädchenstimme, irgendeine, nein; der andere Körper hatte sich gegen die Arme gestemmt, viel zu heftig, viel zu schwach; nicht schlagen, hatte die Stimme gerufen, nicht schlagen, nur mit dem Stock nicht, eine Mädchenstimme, fremd und schrill, nein, nicht den Hals; da war dieser andere Körper schon fest zwischen den beiden Armen gelegen, regungslos, hilflos, da waren die von Schmerz gekrümmten, befreiten Finger bereits hingeflohen in die Spalte des Geschlechts, wurden aufgenommen in einem Schoß, in einem Mutterschoß, irgendeinem, und jenes stockende, krampfhafte Atmen setzte wieder ein, wurde heftiger, erstarb. Siehst du, hatte er sagen wollen, aber etwas hatte ihm die Worte in den Hals zurückgewürgt, siehst du, ich tröste dich, ich habe dich getröstet, komm, sei still, schlaf jetzt. Ihre Atemzüge waren langsamer geworden, aber immer noch hatte sie laut geatmet, zu laut, und damit sie nicht länger so laut atmen müsse, damit sie endlich einschliefe, still, ein getröstetes Kind, hatte er mit den Lippen ihren halb offenen Mund berührt, für einen Augenblick nur, es war ein Gutenachtkuss gewesen. Ein Gutenmorgenkuss; es war bereits hell, er hatte die Augen geschlossen, und es war ihm, als sähe er durch die Augenlider die tote Helene. Sie war nicht mehr tot, war auferstanden, hatte leise das Zimmer betreten und war stehengeblieben vor dem Sofa, sie hatte gelächelt, und er hatte zu ihr gesagt: Unser Kind, ich habe unser Kind getröstet; und war dann eingeschlafen, allmählich, in wohligerWärme, er, unbefriedigt, neben dem Mädchen, das er befriedigt hatte, getröstet und befriedigt, sie war dagelegen wie tot, vom Leiden befreit, er hatte ein gutes Werk getan. Als er sie dann ein paar Tage später in sein Bett geholt hatte, war ihr nicht mehr eingefallen zu schreien. Er hatte sie von da an niemals mehr geschlagen.
    Nun stand er wieder am selben Fleck in der Küche, rauchte seine Zigarette, hörte das Plätschern des Wassers, hörte, was sie sagte, und tat immer noch so, als höre er’s nicht.
    Angst hast du, sagte Lilo, gebettelt hast du, geschimpft hast du, gefleht hast du, gedroht hast du, auf den Knien bist du gelegen, schlagen hast du mich wollen, aber jetzt, jetzt traust du dich nicht; seitdem der junge Kranz im Hause ist, traust du dich nicht mehr. Sie nahm die Seife, richtete sich auf, hob den linken Arm, um mit der Seife unter die Achselhöhle zu fahren, wusch sich den linken Arm, legte dann die Seife zur Seite und rieb sich mit beiden Händen den Hals, es sah aus als versuchte sie, sich zu erwürgen. Erwürgen, sagte lautlos Heinrich Moravec, und laut sagte er: Beeile dich lieber. Dann war Lilo aus der Dampfwolke verschwunden, nur ihre Stimme war zurückgekehrt in die Küche. Du fürchtest dich vor dem jungen Kranz, sagte die Stimme, schneide nicht ein Gesicht, als hättest du Essig getrunken, ich hab’ es ja nur so gesagt.
    Nur so gesagt, dahingesagt in die Luft, die ist ja verrückt geworden, sagte Heinrich Moravec laut. Er war aus dem Haus gegangen, ziellos zuerst und dann doch nicht ohne Ziel; er stand in der Kirche.
    HochwürdenHorowitz hantierte vor dem Altar, müde, langsam, lautlos, er kniete schwerfällig nieder, stützte sich auf den Arm des irren Ambros, stand auf, verbeugte sich vor dem Tabernakel, wandte sich um, breitete flüchtig die Arme aus, drehte dem Kirchenschiff wieder den Rücken zu, sagte etwas, vielleicht ein lateinisches Wort,

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