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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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eben Angst, sagte Lilo ein zweites Mal, wurschtig und ein klein wenig boshaft, beugte sich nieder, um die Blechkanne mit dem Kaltwasser hochzuheben (die Beine strafften sich, der Bogen der Wirbel, die Reihe der Rippen, die Muskeln des knabenhaft eckigen Hinterteils pressten sich gegen die Haut), sie hielt die Kanne hoch, ließ den kalten Wasserstrahl in die Waschschüssel herunterplätschern, beobachtete mit schrägem Kopf die Dunstwolke und in deren Mitte den dünnen Strahl kalten Wassers, der aussah wie ein Säbel. Du hast Angst, sagte sie ein drittes Mal, in das Wasserplätschern hinein, nicht leise und nicht laut, und Heinrich Moravec tat immer noch so, als hätte er nichts gehört außer dem Plätschern des Wassers, als stünde er bloß da, um die morgendliche Toilette seiner Tochter zu überwachen, ein gewissenhafter Vater.
    Genau an derselben Stelle war er gestanden drei oder vier Wochen nach dem Tod seiner Frau, gestanden auf den Stock gestützt, Lilo war erst dreizehn gewesen, er war früh am Morgen in die Küche gekommen, um die Streichholzschachtel aus dem Küchenschrank zu nehmen, er hatte viel geraucht, damals nach dem Tod der Helene, die erste Zigarette gleich nach dem Aufstehen, beinahe noch im Schlaf, und dann fünfzig Stück am Tag oder mehr (rumänische Zigaretten, beim Rechtsanwalt des jungen Baron Ammer waren sie in jeder Menge zu haben gewesen), und während er dann den Rauch eingesogen hatte, der ihm im Rachen brannte, und wieder den Stock genommen hatte, um in das Kabinett, in dem er seit dem Tag des Begräbnisses übernachtete, zurückzukehren, war sein Blick zufällig auf die andere Tür gefallen. Zufällig, oder wegen des kaum hörbaren Geräusches, es klang wie ein Seufzer. Die Tür führte in das gute Zimmer, in den Salon, wie sie es nannten, in dem Lilo schlief, eine unverschlossene Tür, angelehnt, man sah durch den schmalen Spalt die warme, von der Schlafenden gewärmte Finsternis, hörte stockendes Atmen. In diese Finsternis war er hineingegangen, väterlich besorgt, hatte die Zigarette im Aschenbecherlange und sorgfältig zerdrückt und dann lange und sorgfältig den Stock an den Sessel gelehnt, auf dem das Kleid des Mädchens lag, schwarz, ein Trauerkleid; da war er bereits vor dem Sofa gestanden, um auf dieses stockende, krampfhafte, kranke Atmen zu horchen und dann wieder zu gehen, um dann doch nicht zu gehen, sondern sich väterlich liebevoll über die Schlafende zu beugen; sie hatte nicht geschlafen, war dagelegen mit offenen Augen, weinend, nicht heftig, nicht mit vielen Tränen, wie sie hätte weinen sollen, ein dreizehnjähriges Kind, sie weinte mit trockenen Augen.
    Er hatte sich also niedergebeugt, Lilo, hatte er gesagt, was hast du denn, komm, es ist schrecklich, ich weiß es, schrecklich, hatte er gesagt, leise, er hatte flüstern wollen, aber der Nikotinrauch war ihm an den Stimmbändern gelegen, die Stimme hatte heiser geklungen, komm, Lilo, es ist schrecklich, hatte die heisere Stimme gesagt, komm, beruhige dich doch, schau. Er war dann am Rand des Sofas gesessen, ratlos und erschrocken, die linke Hand auf dem Schenkel des kürzeren Beines, die rechte auf dem Leintuch, drei, zwei und dann nur mehr ein Fingerbreit vom Rand der Bettdecke, Lilo, hatte er geflüstert mit brüchiger Stimme, komm, Lilo, schau; er hatte die rechte Hand auf ihre Stirn gelegt, sie war nicht fieberheiß, Gott sei Dank, er hatte die Stirn gestreichelt und das Haar und das Gesicht; wein doch nicht, wir werden die Mutti nie vergessen; seine Finger waren über das Gesicht geglitten, über die Augenlider, die sich unter der Berührung geschlossen hatten, über die Lippen. Sie hatten sich gestrafft, gelockert und wieder gestrafft, es hatte ein seltsamesGeräusch gegeben, vielleicht hatte Lilo die Hand geküsst, die auf ihrem Gesicht gelegen war. Komm, sei nicht so traurig, hatte er noch gesagt, väterlich flüsternd, komm, wein doch nicht, wein nur, wein dich aus, die Mutti ist im Himmel, wein nur, komm, ich werde dich trösten – ich werde dich trösten, hatte er sagen wollen, aber irgend etwas hatte ihm verboten, die paar Worte auszusprechen, er hatte geschwiegen, hatte aber lautlos weitergeredet, zu sich, zu der Toten, Helene, hatte er lautlos gesagt, Helene, Goldvogerl, Helene, ich werde dich trösten. Er war aufrecht gesessen, immer noch, seine Hand war über ihren Hals gefahren, war liegengeblieben auf der einen Schulter und dann zurückgekehrt auf den Hals, es war ein schlanker und wehrloser

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