Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
Theo von Natur aus neugierig und in einem Anwaltshaushalt aufgewachsen war, hatte er jahrelang versucht, etwas über Ikes geheimnisvolles Vergehen herauszufinden. Ohne großen Erfolg.
»Darüber reden wir, wenn du älter bist«, sagte sein Vater brüsk, wenn sich Theo besonders interessiert zeigte, während seine Mutter sich normalerweise mit »Das erklärt dir dein Vater irgendwann« herausredete.
Theo kannte nur die grundlegenden Fakten: Erstens war Ike einmal ein gewiefter und erfolgreicher Steueranwalt gewesen, zweitens hatte er irgendwann eine mehrjährige Gefängnisstrafe abgesessen, drittens hatte er seine Zulassung als Anwalt unwiderruflich verloren, viertens hatte sich seine Frau von ihm scheiden lassen, als er in Haft war, und die Stadt mit den drei Kindern verlassen, fünftens waren die Kinder, Theos Cousins ersten Grades, viel älter als Theo, der ihnen nie begegnet war, und sechstens waren die Beziehungen zwischen Ike und Theos Eltern angespannt.
Ike verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Steuerberater für Kleinunternehmer und ein paar andere Mandanten. Er lebte allein in einem winzigen Apartment und sah sich gern als Outlaw, als Rebell gegen das Establishment. Er trug merkwürdige Kleidung, hatte das lange, graue Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, lief selbst bei kaltem Wetter in Sandalen herum und ließ auf der billigen Stereoanlage in seinem Büro meistens Grateful Dead oder Bob Dylan laufen. Er arbeitete über einem griechischen Lebensmittelladen mit Imbiss, in einem faszinierend schäbigen Altbauzimmer mit Regalen voller ungelesener Bücher.
Theo hüpfte die Treppe hinauf, klopfte und öffnete die Tür im selben Atemzug. Er marschierte in Ikes Büro als wäre es sein eigenes.
Ike saß an einem Schreibtisch, der noch voller war als der seines Bruders Woods, und trank aus einem großen Pappbecher Kaffee.
»Morgen, Theo«, knurrte er mürrisch.
»Hallo, Ike.« Theo ließ sich auf einen wackli gen Hol zstuhl vor dem Schreibtisch fallen. »Was gibt’s?«
Ike stützte sich auf die Ellbogen und beugte sich vor. Seine Augen waren gerötet und verquollen. Im Laufe der Jahre hatte Theo immer wieder bruchstückhaft Gerüchte über Ikes Alkoholkonsum gehört, und er vermutete, dass sein Onkel deswegen morgens nur langsam in die Gänge kam.
»Ich vermute, du machst dir Sorgen wegen deiner Freundin, diesem Finnemore-Mädchen«, begann Ike.
Theo nickte.
»Das kannst du dir sparen. Sie ist es nicht. Bei der Leiche aus dem Fluss handelt es sich offenbar um einen Mann, nicht um ein Mädchen. Ganz sicher ist es noch nicht, weil die Ergebnisse der DNA -Tests erst in ein oder zwei Tagen vorliegen, aber die betreffende Person ist, besser gesagt war etwa 1,68 Meter groß. Wenn ich mich nicht irre, war deine Freundin keine 1,60 Meter groß.«
»Das könnte hinkommen.«
»Die Leiche ist stark verwest, was darauf hindeutet, dass sie länger als ein paar Tage im Wasser gelegen hat. Deine Freundin wurde spät am Dienstagabend oder früh am Mittwochmorgen entführt. Selbst wenn der Entführer sie kurz danach in den Fluss geworfen hätte, wäre die Verwesung nicht so weit fortgeschritten. Der Kadaver ist ziemlich übel zugerichtet, verschiedene Körperteile fehlen. Wahrscheinlich lag er eine Woche oder so im Wasser.«
Das musste Theo erst einmal verdauen. Er war verblüfft und erleichtert, so erleichtert, dass er unwillkürlich grinsen musste. Als Ike weitersprach, spürte Theo, wie sich die Anspannung in Brust und Magengrube löste.
»Die Polizei wird das heute Morgen um neun bekanntgeben. Ich dachte, du hättest gern einen kleinen Vorsprung.«
»Danke, Ike.«
»Allerdings wird keiner zugeben wollen, dass die letzten beiden Tage reine Zeitverschwendung waren, obwohl das eigentlich auf der Hand liegt. An der Hypothese, dass Jack Leeper das Mädchen entführt, ermordet und in den Fluss geworfen hat, ist nichts dran. Leeper ist ein notorischer Lügner, und die Cops haben sich auf die falsche Fährte locken lassen. Aber das wird nicht erwähnt werden.«
»Wer hat dir das erzählt?«, wollte Theo wissen, merkte aber sofort, dass es die falsche Frage gewesen war. Darauf würde er keine Antwort bekommen.
Ike lächelte und trank einen Schluck Kaffee. »Ich habe Freunde, Theo. Nicht dieselben Freunde wie früher. Meine Freunde kommen nicht mehr aus denselben Vierteln. Sie sitzen nicht in den großen Bürogebäuden und Villen. Sie sind näher an der Straße dran.«
Theo wusste, dass Ike viel Poker
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