Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
gehen, als sein Handy klingelte. Es war sein Onkel Ike.
»Hallo.« Theo war etwas überrascht, um diese Zeit von Ike zu hören. Sein Onkel war nicht gerade als Frühaufsteher bekannt.
»Theo, hier ist Ike. Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Ike.« Obwohl Ike Anfang sechzig war, bestand er darauf, dass Theo ihn nur mit Ike anredete. Nichts von wegen Onkel. Ike war kein einfacher Mensch.
»Wann musst du in die Schule?«
»In einer halben Stunde oder so.«
»Hast du Zeit, kurz vorbeizuschauen? Mir sind interessante Informationen zu Ohren gekommen, die noch nicht offiziell sind.«
Die Familientradition verlangte, dass Theo Ike jeden Montagnachmittag einen Besuch abstattete. Diese Besuche dauerten normalerweise eine halbe Stunde und verliefen nicht immer angenehm. Ike fragte Theo gern nach Noten, Hausarbeiten, Zukunftsplänen und so weiter aus, was ziemlich anstrengend war.
Ike hatte immer etwas zu meckern. Seine eigenen Kinder waren erwachsen und lebten weit entfernt. Theo war sein einziger Neffe. Er konnte sich nicht vorstellen, warum Ike ihn so früh an einem Freitagmorgen sehen wollte.
»Geht klar«, sagte Theo.
»Beeil dich und erzähl keinem was.«
»In Ordnung, Ike.« Theo klappte sein Telefon zu. Höchst merkwürdig. Aber ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Seine Gedanken überschlugen sich ohnehin schon. Judge, der natürlich ebenfalls die Würstchen gerochen hatte, kratzte an der Tür.
Woods Boone frühstückte fünf Tage die Woche immer um dieselbe Uhrzeit, nämlich um sieben Uhr, am selben Tisch im selben Diner in der Innenstadt mit denselben Freunden. Aus diesem Grund bekam Theo seinen Vater morgens nur selten zu Gesicht. Seine Mutter begrüßte Theo mit einem Küsschen auf die Wange. Beide wünschten sich einen guten Morgen und erkundigten sich, wie der andere geschlafen hatte. Marcella Boone war noch im Bademantel. Wenn sie keinen Gerichtstermin hatte, war der Freitagmorgen für ihr Schönheitsprogamm reserviert: Friseur, Maniküre, Pediküre. Als berufstätige Frau legte sie großen Wert auf ihr Äußeres. Ihr Mann sah das bei sich selbst nicht so eng.
»Nichts Neues von April«, sagte Mrs. Boone. Der kleine Fernseher neben der Mikrowelle war ausgeschaltet.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Theo und setzte sich.
Judge stand vor dem Herd, so nah an den Würstchen wie nur möglich.
»Gar nichts, zumindest jetzt noch nicht«, erwiderte sie, als sie Theo seinen Teller hinstellte. Ein Stapel kleiner runder Pfannkuchen, drei Würstchen. Sie goss ihm ein Glas Milch ein.
»Danke, Mom. Echt super. Was ist mit Judge?«
»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn und servierte dem Hund seinen eigenen kleinen Teller. Ebenfalls Pfannkuchen und Würstchen.
»Lass es dir schmecken.« Sie setzte sich und blickte auf Theos üppiges Frühstück, wobei sie selbst nur an ihrem Kaffee nippte.
Theo blieb keine Wahl, er musste ordentlich reinhauen. »Köstlich, Mom«, sagte er nach ein paar Bissen.
»Ich dachte, du kannst heute eine Stärkung gebrauchen.«
»Danke.«
»Theo, geht es dir gut?«, fragte sie, nachdem sie ihn eine Zeit lang schweigend beobachtet hatte. »Versteh mich nicht falsch, ich weiß, die ganze Sache ist furchtbar, aber wie kommst du damit zurecht?«
Essen war einfacher als reden. Theo hatte nämlich keine Antwort. Wie beschreibt man seine Gefühle, wenn eine enge Freundin entführt und wahrscheinlich in einen Fluss geworfen wird? Wie verleiht man seiner Trauer Ausdruck, wenn diese Freundin ein vernachlässigtes Kind aus einer merkwürdigen Familie mit verrückten Eltern ist, ein Kind, das nie wirklich eine Chance hatte? Theo kaute weiter.
»Mir geht’s gut, Mom«, knurrte er, als die Pause zu lang wurde. Das stimmte nicht, aber im Augenblick fiel ihm nichts Besseres ein.
»Willst du darüber reden?«
Die Frage kannte er nur allzu gut. Theo schüttelte den Kopf. »Nein, lieber nicht. Das macht es nur noch schlimmer.«
Sie lächelte. »Okay. Das verstehe ich.«
Fünfzehn Minuten später sprang Theo auf sein Fahrrad, strich Judge zum Abschied über den Kopf und flitzte aus der Einfahrt auf die Mallard Lane.
Lange vor Theos Geburt war Ike Boone Anwalt gewesen. Er hatte die Kanzlei gemeinsam mit Theos Eltern gegründet. Die Zusammenarbeit der drei Juristen hatte bestens funktioniert und war höchst erfolgreich gewesen, bis sich Ike etwas zuschulden kommen ließ. Eine gravierende Verfehlung. Was auch immer es gewesen war, in Theos Gegenwart wurde nicht darüber gesprochen. Da
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