Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
spielte und Anwälte und Polizisten im Ruhestand zu seinem Kreis gehörten. Ike erging sich gern in Andeutungen über geheimnisvolle Freunde, die alles aus dem Hintergrund beobachteten und wussten, was auf der Straße geredet wurde. Das stimmte in gewisser Hinsicht sogar. Im vergangenen Jahr war einer seiner Mandanten verurteilt worden, weil er einen kleinen Drogenring organisiert hatte. Da er als Buchhalter des Mannes aussagen musste, war auch Ikes Name in der Presse erwähnt worden.
»Mir kommt vieles zu Ohren, Theo«, fügte er hinzu.
»Und wer ist der Tote aus dem Fluss?«
Noch ein Schluck Kaffee. »Das werden wir vermutlich nie erfahren. Bis dreihundertfünfzig Kilometer flussaufwärts ist im letzten Monat niemand vermisst gemeldet worden. Hast du je von dem Fall Bates gehört?«
»Nein.«
»Das war vor etwa vierzig Jahren.«
»Ich bin dreizehn, Ike.«
»Stimmt. Jedenfalls war das drüben in Rooseburg. Eines Nachts täuscht ein Gauner namens Bates seinen eigenen Tod vor. Schnappt sich einen Unbekannten, schlägt ihn bewusstlos, setzt ihn in seinen eigenen Wagen, einen gar nicht so üblen Cadillac, fährt das Auto in den Graben und steckt es in Brand. Als Polizei und Feuerwehr auftauchen, brennt der Wagen lichterloh. Jeder denkt, der verkohlte Tote ist Mr. Bates. Nach der Beerdigung lässt sich Mrs. Bates die Lebensversicherung auszahlen. Mr. Bates ist vergessen, bis er drei Jahre später in Montana vor einer Bar festgenommen wird. Er wird hier vor Gericht gestellt und bekennt sich schuldig. Die große Frage ist, wer war der Mann, der in dem Wagen verbrannt ist? Mr. Bates sagt, das weiß er nicht. Für den Namen hat er sich nie interessiert, es war einfach ein Anhalter, den er irgendwann nachts mitgenommen hat. Drei Stunden später war der Junge nur noch Asche. Hat wohl das falsche Auto erwischt. Bates bekommt lebenslänglich.«
»Worauf willst du hinaus, Ike?«
»Darauf, dass wir vielleicht nie erfahren werden, wen die Cops aus dem Fluss gezogen haben, lieber Neffe. Es gibt eine ganze Kategorie von Menschen, Theo, von Nichtstuern, Pennern, Obdachlosen, die in einer Parallelwelt lebt. Diese Menschen sind namenlos, gesichtslos. Sie ziehen von Stadt zu Stadt, springen auf Züge auf, reisen per Anhalter, hausen im Wald und unter Brücken. Die Gesellschaft will nichts von ihnen wissen, und von Zeit zu Zeit stoßen ihnen schlimme Dinge zu. Sie leben in einer harten, gewalttätigen Welt, und wir sehen nicht viel von ihnen, weil sie nicht gesehen werden wollen. Ich vermute, dass die Leiche, die von der Polizei untersucht wird, nie identifiziert werden wird. Aber darum geht es auch gar nicht. Das Erfreuliche ist, dass es nicht deine Freundin ist.«
»Danke, Ike. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Ich dachte, du könntest etwas Aufmunterung gebrauchen.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht, Ike. Ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht.«
»Ist sie deine Freundin?«
»Nein, nur eine gute Freundin. Ihre Familie ist extrem merkwürdig. Außer mir gibt es nicht viele Leute in ihrem Alter, denen sie vertraut.«
»Sie kann froh sein, einen Freund wie dich zu haben, Theo.«
»Danke, Ike.«
Ike legte entspannt die Füße auf den Schreibtisch. Natürlich Sandalen– mit knallroten Socken. Er trank von seinem Kaffee und lächelte Theo an. »Was weißt du über ihren Vater?«
Theo wand sich ein wenig, weil er nicht recht wusste, was er sagen sollte. »Ich bin ihm einmal begegnet, bei ihr zu Hause. Aprils Mutter hat vor ein paar Jahren eine Geburtstagsparty für sie gegeben. Es war ein Desaster, weil die meisten Gäste gar nicht erst aufgetaucht sind. Viele Eltern wollten sie nicht zu den Finnemores ins Haus lassen. Aber ich war da, mit drei anderen, und ihr Vater auch. Er hatte langes Haar und einen Bart und wusste nicht so recht, was er mit uns Kindern anfangen sollte. April hat mir im Laufe der Jahre viel erzählt. Er kommt und geht. Besser, wenn er nicht da ist, findet sie. Er spielt Gitarre, schreibt Lieder– schlechte Lieder, sagt April, und träumt immer noch vom großen Durchbruch als Musiker.«
»Ich kenne den Mann«, erklärte Ike mit wissender Miene. »Besser gesagt, ich weiß über ihn Bescheid.«
»Wie das?«, fragte Theo, den es nicht weiter überraschte, dass sein Onkel auch diese merkwürdige Gestalt kannte.
»Ich habe einen Freund, der ab und zu mit ihm Musik macht. Ein Versager, sagt mein Freund. Hat zusammen mit anderen Nullen mittleren Alters eine improvisierte Band, mit der er
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