Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Gericht morgen genehmigt. Ich war heute Morgen bei Richter Gantry, und er hat uns Plätze auf der Galerie versprochen.«
» Das ist aber nett von ihm. Da habt ihr Glück. Die halbe Stadt wird da sein.«
» Gehst du auch?«
» Ich? Nein.« Sein Vater deutete mit einer vagen Handbewegung auf die Papierstapel, als erforderten sie seine sofortige Aufmerksamkeit. Theo hatte ein Gespräch zwischen seinen Eltern mitgehört, bei dem sie sich geschworen hatten, sich während des Mordprozesses nicht im Gericht blicken zu lassen. Sie waren selbst viel beschäftigte Anwälte und fanden es nicht richtig, ihre Zeit bei einem Verfahren zu verschwenden, mit dem sie nichts zu tun hatten. Aber Theo wusste, dass sie genauso gern dabei gewesen wären wie der Rest der Stadt.
Seine Eltern– vor allem sein Vater, aber in geringerem Maße auch seine Mutter– schoben gern ihre Arbeit vor.
» Wie lang wird die Verhandlung dauern?«, fragte Theo.
» Angeblich eine Woche, sagt die Gerüchteküche.«
» Am liebsten wäre ich die ganze Zeit dabei.«
» Vergiss es, Theo. Ich habe schon mit Richter Gantry gesprochen. Wenn er dich während der Unterrichtszeit im Saal erwischt, unterbricht er die Verhandlung und lässt dich vom Gerichtsdiener abführen. Und ich hole dich nicht aus dem Gefängnis. Von mir aus kannst du ein paar Tage mit Säufern und Gangmitgliedern absitzen.«
Damit griff Mr. Boone nach einer Pfeife, hielt einen kleinen Anzünder in den Pfeifenkopf und blies den Qualm in den Raum. Vater und Sohn fixierten sich gegenseitig. Theo war nicht sicher, ob sein Vater es ernst meinte, aber er wirkte fest entschlossen.
» Machst du Witze?«, fragte er schließlich.
» Halb und halb. Ich würde dich bestimmt aus dem Gefängnis holen, aber ich habe wirklich mit Richter Gantry gesprochen.«
Theo überlegte fieberhaft, wie er der Verhandlung beiwohnen konnte, ohne dass ihn Richter Gantry entdeckte. Die Schule zu schwänzen war das geringste Problem.
» Und jetzt ab mit dir«, sagte Mr. Boone. » Mach deine Hausaufgaben.«
» Bis später.«
Die Eingangstür im Erdgeschoss wurde von einer Frau gehütet, die fast so alt war wie die Kanzlei selbst. Ihr Vorname war Elsa. Ihr Nachname war Miller, aber mit dem durfte sie niemand ansprechen, nicht Theo und auch sonst niemand. Trotz ihres Alters, das keiner genau kannte, bestand sie darauf, nur mit Elsa angeredet zu werden. Selbst von einem Dreizehnjährigen. Elsa hatte schon lange vor Theos Geburt für die Boones gearbeitet. Sie war Empfangsdame, Sekretärin, Büroleiterin und, wenn nötig, auch Anwaltsassistentin. Sie führte die Kanzlei und schlichtete gelegentlich die kleinen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Rechtsanwalt Boone im ersten Stock und Rechtsanwältin Boone im Erdgeschoss.
Elsa spielte im Leben aller drei Boones eine wichtige Rolle. Für Theo war sie Freundin und Vertrauensperson. » Hallo, Elsa«, sagte er, als er an ihrem Schreibtisch stehen blieb, um sie zu umarmen.
Munter wie immer sprang sie auf und drückte ihn kräftig. Dann musterte sie seine Brust. » Hast du das Hemd nicht gestern schon angehabt?«
» Nein.« Hatte er wirklich nicht.
» Kommt mir aber so vor.«
» Wirklich nicht, Elsa.« Sie äußerte sich oft zu seiner Kleidung, was für einen Jungen in seinem Alter ziemlich lästig werden konnte. Immerhin verhinderte es, dass Theo sich gehen ließ. Irgendwer beobachtete einen immer und machte sich im Geiste Notizen, und er dachte oft an Elsa, wenn er sich am Morgen in aller Eile anzog. Noch so eine lästige Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte.
Elsas eigene Garderobe war legendär. Sie war klein und sehr zierlich und konnte daher alles anziehen, wie Theos Mutter immer wieder sagte– am liebsten enge Kleidung in knalligen Farben. Heute trug sie eine schwarze Lederhose mit einem flippigen Pullover, der Theo an grünen Spargel erinnerte. Das kurze graue Haar glänzte und war stachelig nach oben gegelt. Wie immer war ihre Brille auf ihr Outfit abgestimmt, heute also grün. Elsa war das Gegenteil einer grauen Maus. Sie ging auf die siebzig zu, hatte aber nicht vor, diskret zu altern.
» Ist meine Mutter da?«, fragte Theo.
» Ja, die Tür steht offen.« Elsa setzte sich wieder, und Theo ging weiter.
» Danke.«
» Ein Freund von dir hat angerufen.«
» Wer?«
» Ein gewisser Sandy. Er kommt vielleicht vorbei.«
» Danke.«
Theo ging durch den Gang. An einer Tür blieb er stehen, um die Immobiliensekretärin Dorothy zu begrüßen,
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