Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
können. Denn wenn die Kenntniss aller Geschichten der Bibel für den Beweis ihrer Lehre nöthig wäre, und keine Folgerung ohne umfassende Betrachtung aller darin erzählten Thatsachen gezogen werden konnte, so würde der Beweis ihrer Lehre und die Ableitung derselben nicht blos den Verstand und die Kräfte des gemeinen Volkes, sondern aller Menschen übersteigen. Denn Niemand konnte auf eine so grosse Zahl von Erzählungen zugleich Acht haben und auf so viele Umstände und Theile der Lehre, die aus so vielen und verschiedenen Erzählungen entnommen werden müssen. Ich für meine Person wenigstens kann daher nicht glauben, dass Die, welche uns die Bibel, so wie sie ist, hinterlassen haben, einen so grossen Verstand besessen haben und einer solchen Schlussfolgerung fähig waren; und noch weniger, dass die Bibellehre nicht eingesehen werden könne, ohne den Streit Isaak's, ohne die Rathschläge, welche Ahitophel dem Absalom gegeben, ohne die Bürgerkriege zwischen den Juden und Israeliten und ohne andere dergleichen Berichte zu kennen, und dass den Juden zu Mosis Zeit diese Lehre aus ihren Geschichten nicht ebenso gut habe gelehrt werden können, wie den Juden zur Zeit Esra's. Hierüber werde ich später noch ausführlicher sprechen.
Das niedere Volk braucht also nur die Geschichten zu kennen, welche seinen Sinn am meisten zum Gehorsam und zur Frömmigkeit bewegen können; aber ein Urtheil kann dieses niedere Volk darüber nicht fällen, vielmehr erfreut es sich nur an der Erzählung der einzelnen unerwarteten Vorfälle und nicht an der Lehre dieser Geschichten. Deshalb bedarf es neben dem Lesen dieser Geschichte noch der Prediger oder Kirchenbeamten, die es seiner Schwäche gemäss belehren. Um indess von der Sache nicht abzuschweifen, schliesse ich meine Aufgabe damit, dass der Glaube an die Geschichten aller Art nicht zu dem göttlichen Gesetz gehört, dass er die Menschen durch sich nicht selig macht, und dass der Nutzen dieser Geschichten blos in der Belehrung liegt, in welcher Hinsicht die eine Geschichte besser als die andere sein kann. Deshalb sind die Erzählungen im Alten und Neuen Testament besser als die weltlichen, und von jenen ist die eine besser als die andere; lediglich je nach den heilsamen Lehren, die aus denselben sich ergeben. Hat Jemand daher die ganzen Geschichten der Bibel gelesen, und glaubt er an alle, hat er aber auf die Lehre, die darin geboten werden soll, nicht geachtet und seinen Lebenswandel nicht gebessert, so ist es ebenso, als hätte er den Koran oder die Schauspiele der Dichter oder die gemeinen Geschäftsbücher mit der Aufmerksamkeit des gemeinen Volkes gelesen, und umgekehrt ist Der selig, der diese Geschichten nicht kennt, aber doch die heilsamen Grundsätze hat und einen wahren Lebenswandel führt; Dieser hat in Wahrheit den Geist Christi in sich.
Die Juden sind jedoch anderer Ansicht; sie Sägen, dass die wahre Liebe und der wahre Lebenswandel zur Seligkeit nichts nützt, so lange die Menschen dies blos mit dem natürlichen Licht erfassen und nicht als die durch Moses offenbarten Lehren. Maimonides wagt dies offen in der Stelle Könige VIII. 9 mit den Worten auszusprechen: »Jeder, der die sieben Gebote 8 in sich aufgenommen hat und sie fleissig erfüllt hat, gehört zu den Frommen in den Völkern und ist ein Erbe der zukünftigen Welt; wenn dies nämlich deshalb von ihm geschehen ist, weil Gott sie in diesem Gesetze gegeben, und weil durch Moses offenbart worden, dass sie ehedem den Söhnen Noah's gegeben worden seien. Hat er es aber blos gethan, weil seine Vernunft ihn dazu geführt hat, so ist Dieser kein Einwohner und gehört nicht zu den Frommen und Weisen in den Völkern.« - Dieses sind die Worte des Maimonides; ihnen fügt R. Joseph , Sohn von Shem Tob , in seinem »Kebod Elohim« oder »Die Ehre Gottes« genannten Buche hinzu: dass wenn auch Aristoteles , welcher nach seiner Meinung die beste Ethik geschrieben hat, und den er hochschätzt, in seinem Lebenswandel nichts zur wahren Ethik Gehöriges und in seiner Ethik Enthaltenes unterlassen, sondern Alles sorgfältig beobachtet hätte, so würde ihm das doch zu seinem Heile nichts genutzt haben, weil er seine Lehre nicht als göttlich offenbart, sondern blos als von der Vernunft geboten erfasst habe.
Dem aufmerksamen Leser wird indess nicht entgehen, dass dies Alles nur reine Einbildungen sind, die sich auf keine Gründe und auf kein Ansehn der Bibel stützen; es genügt deshalb deren Erwähnung zu ihrer
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