Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Staates, in dem sie lebten, und das sie auch verpflichtete, wie ich hier und im dritten Kapitel bei Gelegenheit des Melchisedek bemerkt habe.
Hiernach glaube ich meine Ansicht mit dem Ansehn der Bibel unterstützt zu haben, und ich habe nur noch zu zeigen, wie und weshalb diese Gebräuche zur Bewahrung und Erhaltung des jüdischen Reiches beitrugen. Dies kann mit Wenigem geschehen und aus allgemeinen Gründen dargelegt werden. Die Gemeinschaft ist nicht blos gut zum Schutz gegen die Feinde, sondern zur Beschaffung vieler Dinge, und selbst nothwendig; denn wollten die Menschen einander nicht gegenseitig helfen, so wurde ihnen das Geschick und die Zeit fehlen, um sich, soweit es möglich ist, zu ernähren und zu erhalten. Denn Jeder ist nicht zu Jedwedem geschickt, und Niemand vermag Alles das sich zu verschaffen, dessen er nöthig bedarf. Die Kräfte und die Zeit, sage ich, würden Jedem fehlen, wenn er für sich allein pflügen, säen, ernten, mahlen, kochen, weben, nähen und vieles Andere zum Leben Erforderliche machen wollte, ohne der Künste und Wissenschaften zu gedenken, die zur Vervollkommnung der menschlichen Natur und zur Seligkeit höchst nöthig sind. Man sieht, dass Die, welche roh, ohne staatliche Verbindung leben, ein elendes und beinah thierisches Leben führen und selbst das Wenige, Elende und Rohe, welches sie besitzen, ohne gegenseitige Hülfe, sei sie, welche sie wolle, nicht erlangen.
Wären daher die Menschen von Natur so angewöhnt, dass sie nur das wahrhaft Vernünftige verlangten, so brauchte die Gesellschaft keine Gesetze, sondern es genügte die Unterweisung der Menschen in den moralischen Lehren, um freiwillig und von selbst das wahrhaft Nützliche zu thun. Allein die menschliche Natur ist ganz anders beschaffen; denn Alle suchen zwar ihren Vortheil, aber nicht nach Vorschrift der gesunden Vernunft, sondern sie begehren in der Regel nur die Dinge im Antrieb von Lüsten und Affekten der Seele, ohne Rücksicht auf die Zukunft und andere Dinge; und sie entscheiden sich danach über den Nutzen. Deshalb kann keine Gesellschaft ohne oberste Gewalt und Macht und folglich nicht ohne Gesetze bestehen, welche die Begierden der Menschen und die zügellose Hast massigen und hemmen. Indess lässt sich die menschliche Natur nicht unbedingt zwingen, und wie der Tragiker Seneca sagt, die gewaltsame Herrschaft dauert nicht lange, wohl aber die gemässigte. Denn so lange die Menschen blos aus Furcht handeln, thun sie eigentlich nur das, was sie verabscheuen, und nehmen auf die Nützlichkeit und Nothwendigkeit ihres Thuns keine Rücksicht, sondern sorgen nur, dass sie nicht in die Todes- oder in eine andere Strafe verfallen. Ja, sie müssen sich an dem Uebel und Schaden des Herrschers erfreuen, selbst wenn sie auch grossen Nachtheil davon haben, und sie wünschen ihm alle Uebel und fügen sie ihm zu, soweit sie vermögen. Auch ertragen die Menschen nichts weniger, als die Knechtschaft unter Ihresgleichen und die Herrschaft derselben. Deshalb ist nichts schwerer, als den Menschen die einmal bewilligte Freiheit wieder zu nehmen.
Daraus folgt, 1) dass die ganze Gemeinschaft, wo möglich gemeinsam, die Herrschaft führen muss, damit Jeder so sich selbst und Niemand Seinesgleichen gehorche; haben aber Einige oder Einer die Herrschaft, so muss Dieser etwas über die gemeine Menschennatur zum Voraus haben oder wenigstens mit allen Kräften dies der Menge einzureden versuchen. 2) müssen die Gesetze in jedem Staate so eingerichtet werden, dass die Menschen weniger durch Furcht, als durch die Hoffnung auf einen vorzüglich gewünschten Vortheil in Zucht gehalten werden; denn dann wird Jeder gern das ihm Obliegende thun. Weil 3) der Gehorsam darin besteht, dass die Befehle blos vermöge der Autorität des Befehlenden befolgt werden, so folgt, dass derselbe in einer Gemeinschaft, wo die Herrschaft bei Allen ist, und die Gesetze nach allgemeiner Uebereinstimmung erlassen werden, keinen Platz hat, und dass in einem solchen Staate, mögen die Gesetze vermehrt oder vermindert werden, das Volk dennoch gleich frei verbleibt, weil es nicht nach dem Ansehn eines Andern, sondern nach seiner eignen Uebereinstimmung handelt. Das Gegentheil findet statt, wo Einer allein die Herrschaft unbeschränkt führt; da vollziehen Alle auf Grund der Autorität des Einzigen die Gebote des Reiches. Sind sie daher von Anfang ab nicht so erzogen, dass sie nur auf den Mund des Herrschers sehen, so wird er schwer die nöthigen neuen
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