Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baruch de Spinoza
Vom Netzwerk:
festhalten wollten, nur am Rande bemerkt? Vielmehr hätten sie dann den Text selbst so schreiben sollen, wie er gelesen werden sollte, und nicht den Sinn und die Lesart, die sie am meisten billigten, am Rande bemerken.
     
    Einen zweiten Grund, der etwas mehr Schein hat, entnimmt man aus der Natur der Sache; nämlich die Fehler sollen nicht absichtlich, sondern zufällig in die Handschriften gekommen sein, und was sich so ereignet, wechselt. Allein in fünf Büchern ist das Wort »Mädchen«, mit Ausnahme einer Stelle, mangelhaft, ohne den Buchstaben He , gegen die grammatikalische Kegel geschrieben, dagegen am Rande richtig nach der allgemeinen grammatikalischen Regel. Ist dies auch aus Zufall durch ein Versehen der abschreibenden Hand gekommen? Wie war es möglich, dass die Feder bei Gelegenheit dieses Namens immer eilte? Auch hätte man diesen Fehler leicht und ohne Bedenken nach den grammatikalischen Regeln ergänzen und verbessern können. Da also diese Lesarten nicht vom Zufall herrühren, und da man diese offenbaren Fehler nicht verbessert habe, so seien sie sicherlich absichtlich von den ursprünglichen Verfassern gemacht worden, um damit etwas zu bezeichnen.
     
    Darauf kann ich jedoch leicht antworten. Was aus der bei ihnen entstandenen Gewohnheit abgeleitet wird, kann mich nicht bedenklich machen. Man kann nicht wissen, zu was der Aberglaube führt; vielleicht ist es daher gekommen, weil sie beide Lesarten für gleich gut und zulässig hielten und deshalb, um nichts zu verabsäumen, eine zum Schreiben, die andere zum Lesen einrichteten. Sie scheuten sich vor einem Urtheil in einer so grossen Sache, damit sie nicht das Falsche für das Wahre wählten, und wollten deshalb keines vorziehen, was geschehen wäre, wenn sie eine Lesart allein hätten schreiben und vorlesen lassen, namentlich da in heiligen Büchern Randbemerkungen nicht eingeschrieben werden. Oder es ist vielleicht daher gekommen, dass sie Einzelnes, obgleich es richtig abgeschrieben war, doch anders und so, wie es am Rande bemerkt wurde, vorgelesen haben wollten. Deshalb wurde allgemein eingeführt, dass die Schriften nach den Randbemerkungen verlesen wurden. Was aber die Abschreiber veranlasst, dergleichen ausdrücklich Vorzulesenden am Rande zu bemerken, werde ich gleich sagen; denn nicht alle Randbemerkungen sind zweifelhafte Lesarten, sondern auch die ungewöhnlichen werden angemerkt, d.h. veraltete Worte und solche, welche nach den Sitten jener Zeit kein öffentliches Vorlesen gestatteten, da die alten Schriftsteller ohne bösen Willen die Dinge nicht in höfischer Zweideutigkeit, sondern mit ihren rechten Namen bezeichneten. Als aber Bosheit und Ueppigkeit einriss, begann man das von den Alten ohne Anstoss Gesagte zu den Unanständigkeiten zu rechnen. Doch brauchte man deshalb die Schrift selbst nicht zu ändern, sondern man sorgte, um der Schwäche der Menge zu Hülfe zu kommen, dass die Worte »Beischlaf« und »Exkremente« öffentlich in anständigerer Weise verlesen wurden, wie es nämlich am Rande vermerkt war. Mag endlich der Grund, weshalb es in Gebrauch kam, die Schriften nach den Randbemerkungen zu verlesen und zu erklären, gewesen sein, welcher er wolle, so war es jedenfalls nicht der, dass die wahre Auslegung danach geschehen solle. Denn selbst die Rabbiner weichen im Talmud oft von den Masoreten ab und hatten andere Lesarten, die sie billigten, wie ich gleich zeigen werde. Auch findet sich am Rande Manches, was nach dem Sprachgebrauch weniger zu billigen ist. So heisst es z.B. 2. Samuel IV. 23: »weil der König es that, nach der Meinung seines Dieners«. Dieser Satzbau ist ganz regelmässig und stimmt mit dem in v. 16 desselben Kapitels; dagegen stimmt die Randbemerkung (Deines Knechtes) nicht mit der Person des Zeitwortes. So heisst es auch XVI. letzter Vers dieses Baches: »und da er befragt (d.h. befragt wird) das Wort Gottes.« Hier steht am Rande »Jemand« statt des Nominativs des Zeitwortes, was nicht richtig sein kann; denn es ist in dieser Sprache üblich, unpersönliche Zeitwörter in der dritten Person des Singulars zu gebrauchen, wie die Grammatiker wissen. In dieser Weise finden sich viele Randbemerkungen, die keineswegs den Vorzug vor dem Text verdienen.
     
    Die Antwort auf den zweiten Grund der Pharisäer ergiebt sich leicht aus dem Gesagten; dass nämlich die Abschreiber ausser den zweifelhaften Lesarten auch die veralteten Worte bemerkten. Denn unzweifelhaft hat in der hebräischen Sprache wie in allen

Weitere Kostenlose Bücher