Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Sachen Leistungspunkte auf die Sprünge helfen. Wie überall blüht auch hier das Beratungsgeschäft.
Jetzt muß man es über europäische Studienpläne nur noch schaffen, daß zuerst die Titel der Lehrveranstaltungen und der Module überall gleich klingen, später allerorten auf englisch unterrichtet wird und dann auf die normative Kraft solcher Vorgaben hoffen, und schon hat man das europäische Hochschulwesen in einer Weise vereinheitlicht, die es erlaubt, tatsächlich überall das gleiche zu studieren – weshalb man dann getrost zu Hause bleiben kann. Daß solche Vereinheitlichung, die Mobilität fördern soll, Mobilität konterkariert, weil der Igel in der fratzenhaften Gestalt europäischer Bildungsplanung jedem reisewilligen studentischen Hasen von überall entgegenlacht, wird in dem Maße von der Realität bestätigt, in dem unter der Hand zugegeben wird, daß an den Erasmus-Programmen die Partys für die Stipendiaten das weitaus wichtigste Moment darstellen.
Die Einführung der ECTS-Punkte hat noch eine weitere Konsequenz. Studienpläne orientieren sich nun nicht mehr an für das Erreichen der Studienziele anzubietenden Lehrveranstaltungen, sondern an den dafür zu erbringenden Leistungen der Studierenden. Was plausibel erscheint, hat so seine Tücken. Denn studentische Leistungen können damit tendenziell von Lehrveranstaltungen entkoppelt werden. Nicht zuletzt in Kombination mit den Möglichkeiten von E-Learning könnte als Resultat dieser Entwicklung die virtuelle Fernuniversität stehen. Studenten holen sich ihre Arbeitsaufträge per Internet, arbeiten diese zu Hause durch, bekommen dafür entsprechende Leistungspunkte und sehen die Universität gerade einmal, wenn sie zu einer Abschlußprüfung antreten.
Daß dies kein Zukunftsszenario ist, zeigt das Beispiel der Medizinuniversität Graz, an der ein über die Weiterführung des Studiums entscheidender Vorstudiengang exakt nach diesem Modell organisiert war. Daß private Organisationen sofort auf dieses Verfahren zugeschnittene, kostenpflichtige Seminare für hilfesuchende Studenten anbieten, versteht sich dabei von selbst. Auch auf diese Art kann man Bildung privatisieren. Die Universität wird zu einem Zertifizierungsorgan, gelernt wird bei privaten Kursanbietern. Solches spart Kosten bei der Lehre, entlastet vor allem Studienrichtungen mit Massenandrang, schafft neben der Universität einen freien Markt von zusätzlichen Bildungsdienstleistungen und verabschiedet wieder ein Stück jener Universität, die als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden gedacht war.
Auch die im Zuge des Bologna-Prozesses induzierte »Modularisierung« der Studien gehorcht vorab erst einmal einem quantifizierenden und vereinheitlichenden Prinzip: Studien aller Arten sollen in Modulen angeboten und absolviert werden können, wobei Module zusammenhängende Einheiten darstellen, die dann wie die Elemente eines Elektronik-Baukastens zusammengefügt und gegebenenfalls ausgetauscht werden können. In der Tat orientiert sich diese Überlegung weder am inneren Aufbau einer Wissenschaft und einer daraus abzuleitenden Didaktik noch an lerntheoretischen Erfordernissen, sondern am Modell eines industriellen Setzkastens, wie ihn etwa ein schwedisches Möbelhaus exzessiv praktiziert.
Bezogen auf die Wissenschaften bedeutet dies deren buchstäbliche Verdinglichung: entfremdeter Geist. Das, was in den europäischen Wissenschaftstraditionen als Lebendigkeit und Dynamik des Erkennens, Verstehens und Begreifens aufbewahrt ist und was eine dieser Lebendigkeit entsprechende Didaktik nötig gehabt hätte, wird nun »modularisiert«, zu Bauteilen zusammengepreßt und dann nach Herzenslust kombiniert.
Die ersten Ergebnisse dieser Wissensfabrik sind bereits zu besichtigen. Man fügt einige Basismodule Philosophie und Ethik zu einigen Modulen Betriebswirtschaftslehre und Managementtechniken – schon ergibt sich ein wunderbarer Studiengang »Business Ethics«. Angeblich retten solche Kombinationen an vielen universitären Standorten die ansonsten schwer gefährdete Philosophie. Wieviel allerdings von einer Philosophie zu halten ist, die ihrer Rettung durch die Ökonomie harrt, bleibe dahingestellt.
Natürlich wird man im Ernstfall lieber im Dienste der Wirtschaft denken als gar nicht denken. Die Scholastiker des Mittelalters haben gezeigt, wie der Geist als Magd überleben kann. Das Pathos und der Erfolg der neuzeitlichen Wissenschaft bestanden allerdings in der Kündigung dieses
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