Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
die Habilitation wird weiter an Bedeutung verlieren und schließlich aus pragmatischen Gründen ganz verschwinden. Aus der alten Dreigliedrigkeit Diplom – Doktorat – Habilitation wird so eine neue Dreigliedrigkeit werden: Bachelor – Master – PhD. Dennoch wird sich einiges geändert haben: Im Grundstudium wird das wissenschaftliche Niveau sinken, die Zahl der Studienabschlüsse wird dafür steigen, für an der Wissenschaft oder einer wirklich guten Ausbildung Interessierte wird sich das Studium verteuern und verlängern, so daß es sogar nach den Kriterien der Ökonomisierung fraglich erscheint, ob sich das alles rentiert. Man hätte sich wahrscheinlich viel erspart, hätte man gleich die Diplomstudien als gestufte Bachelor-Studien, die Doktorate als Masterprogramme und den Dr. habil. als PhD deklariert.
Betrachtet man schon existierende oder projektierte Studienprogramme neuen Typs, fällt allerdings eines auf: Alles, vom Bachelor bis zum PhD, wird nun durchstrukturiert, als modularisiertes »Programm« angeboten. War es bisher, zumindest in den Geistes- und Humanwissenschaften, möglich, spätestens im Doktoratsstudium und natürlich in der Habilitation in thematischer Selbstbestimmung und methodischer Freiheit zu forschen, so führen die vernetzten Kollegs und vorgegebenen Doktoratsprogramme zu einem Wissenschaftsverständnis, das durch die Parameter Planbarkeit, Vernetzung, Standardisierung und Kontrolle gekennzeichnet ist. Zwar möchte man durch solche Graduiertenprogramme jungen Wissenschaftlern auch ökonomisch helfen, sie in bestehende Forschungszusammenhänge einbinden und so ihre Karrierechancen erhöhen, aber die Möglichkeiten für individuelle Zugänge, originelle Forschungsansätze und unorthodoxe Fragestellungen schwinden damit.
Fast scheint es so, als kennten die modernen Universitätsreformer nur einen wirklichen Feind: den unabhängig forschenden Geist, der sich ihren Vorstellungen von strukturierter und kontrollierter Wissenschaft entzieht. Ein Konzept, das im Bereich angewandter naturwissenschaftlicher und technisch orientierter Forschung – wahrscheinlich schon nicht mehr in der Grundlagenforschung – vielleicht seine Berechtigung hat, wird unreflektiert auf Wissenschaften übertragen, deren Leistungsfähigkeit und Erklärungskompetenz nach wie vor in hohem Maße von Einzelleistungen abhängt, die sich gerade nicht an Normen, Vorgaben, Programmen und Forschungskontexten orientieren. Daß erst jetzt und deshalb viel zu spät erste zögerliche Kritik an diesem Wissenschaftsverständnis laut wird, 52 indiziert nur, in welchem Maße die Idee der Universität mittlerweile korrumpiert ist.
Wo modernisiert wird, wird gemessen. Zu den besonders pikanten Aspekten des Bologna-Prozesses gehört die Berechnung von Studienleistungen nach dem European Credit Transfer System (ECTS), wofür sich in Deutschland der schöne Begriff »Leistungspunkte« zu etablieren beginnt. Gemessen wird damit angeblich der student workload , also der Arbeitsaufwand, den ein Student für die Erreichung eines bestimmten Lernzieles benötigt. Die für bestimmte studentische Aktivitäten – theoretisch nicht für Lehrveranstaltungen – vergebenen ECTS- oder Leistungspunkte stellen also keine inhaltlichen Äquivalenzen von Studien fest, sondern vergleichen aufgewendete Arbeitszeiten. Es gehört zu den Ironien der Weltgeschichte, daß die Marxsche Arbeitswertlehre, die von den Wirtschaftswissenschaften mit Abscheu ad acta gelegt wurde, in der europäischen Bildungsplanwirtschaft fröhliche Urständ feiert: Der Wert eines Studiums bemißt sich nach der dafür aufgewendeten durchschnittlichen Arbeitszeit.
Solch eine Renaissance des Marxismus im Zentrum einer sich selbst als liberal mißverstehenden Bildungsreform ist wahrlich nicht zu verachten. Gutgläubig oder zynisch gehen die Konstrukteure dieses Systems davon aus, daß eine Lerneinheit in Paderborn, die irgend etwas mit Ethik zu tun hat und für die vier Leistungspunkte vergeben werden, mit einer ähnlich klingenden Lerneinheit in Debrecen, die auch vier Punkte zählt, vergleichbar ist. Und das stimmt auch in dem Sinne, in dem man sagen kann: Überall wo studiert wird, wird studiert. Für diese tautologische Einsicht benötigt man im Europa des 21. Jahrhunderts ein monströses und für die Betroffenen kaum handhabbares Zähl- und Regelwerk. Aus diesem Grund müssen in den einzelnen Ländern auch ECTS-Counsellors eingesetzt werden, die ihrer verstörten Klientel in
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