Theres
ohne jede Kenntnis von dem Ereignis an deinem endgültigen Bestimmungsort. Sagen wir stattdessen, dass du an der Station B aussteigst. Hier hörtman die Sirenen der Einsatzfahrzeuge in der Ferne, doch der Brandgeruch ist nicht zu spüren. Du denkst, in einer großen Stadt wie dieser ist es normal, dass dann und wann Einsatzfahrzeuge ihre Anwesenheit kundtun, und besuchst deinen Blumenladen. Sagen wir, dass du an der Station C aussteigst. Jetzt hört man die Einsatzfahrzeuge, man spürt den Brandgeruch. Du schützt dich, indem du die Hand vors Gesicht hältst und suchst stattdessen einen Blumenladen auf, der in einer geschützten Seitenstraße liegt. Sagen wir stattdessen, dass du im Stadtteil X wohnst. Jetzt hast du die Wahl: Du kannst mithelfen, dich um die Verletzten zu kümmern, oder du kannst es unterlassen. Was wirst du tun?
Sagen wir jetzt, du wohnst in einem abgelegenen Vorort, und dass du zuvor an den U-Bahn-Stationen A, B oder C ausgestiegen bist. Wenn du nach Hause kommst und den Fernseher einschaltest, stellt sich heraus, dass H., ein großer Potentat unseres mächtigen westlichen Nachbarlandes, zufällig zu Gast in der Stadt ist. Die Nachrichtenmedien widmen diesem Besuch beinahe die gesamte Sendezeit. Eine Feuersbrunst jener Art, wie sie den Stadtteil X betroffen hat, wird als allzu unwesentlich betrachtet, als dass sie in der Berichterstattung Aufnahme findet. Mut und Tatkraft einzelner Menschen sind getestet worden. Du selbst aber hast nichts erfahren und daher auch nichts tun können. Nun ist es nicht der Stadtteil X, sondern ein ganzer Weltteil, der in Brand steht. Ist es dann nicht angemessen zu fordern, dass jedes Individuum, ebenso wie jede Behörde, die uns Bürger vertritt, vor die Wahl gestellt werden sollte einzugreifen – oder es zu unterlassen? Dass Selbiges nicht geschieht, dass den Bürgern die Möglichkeit zur Wahl obendrein vorenthalten wird, ist ein Maß des moralischen und politischen Verfalls in diesem Land.
An welcher Station bist du ausgestiegen, Ulrike?
*
Aber Ulrike steigt nirgendwo aus. Sie fährt mit den Kindern auf dem Rücksitz des Wagens zu einem künftigen Brandherd: Berlin. Die Landschaft, die sie durchfährt, wechselt wie die Erinnerung; und die Erinnerung ihrerseits gleitet dahin gleich schrägen, übereinandergelegten Glasscheiben voller Reflexe von Bäumen, Himmeln und Äckern, die sich rasch auf der Windschutzscheibe abzeichnen. Wer entscheidet, wer du in einem bestimmten Augenblick bist? Ulrike aber ist in diesem Augenblick niemand. Sie hockt mit Bubi im Garten hinter Frau Schneiders Haus. Mit einem feinmaschigen Kescher fangen sie Kaulquappen, packen sie in Marmeladengläser und tragen sie zum Paradiespark hinunter, wo sie die Tiere im Fluss freilassen; in dessen mächtigem Strom – so glauben sie als Kinder, die sie sind – können die Tiere in Freiheit wachsen und gedeihen. Als vager Ton in dem rasch verblassenden Nachmittag ist der Ruf von Ulrikes Vater zu hören (von seinem hohen Turmzimmer blickt er auf ganz Jena hinunter und sieht sie also, wie sie zum Flussufer hinunterzotteln): Zeit nach Hause zu kommen, Ulrike.
Und Ulrike zu Bubi: Warum kannst du nicht bei uns zu Hause wohnen …?
Eine andere Glasscheibe, zersprungen, zeichnet Konturen der Falschheit und des Verrats über diese arkadische Szene. Die Szene selbst aber ist unverändert.
Hegels Lektion: Alles kommt aus dem Grunde und geht zu Grunde. Es bleibt immer, das Vergangene zu vernichten.
Der lange Marsch
durch die Institutionen
Fiktionen werden Tag für Tag zu Fakten. Was wir nie geglaubt hätten, dass es geschehen könnte, ist nun schon fast Routine geworden:
* DIE GESCHICHTE VOM JUNGEN STUDENTEN
»SORGLOS« UND VON SEINEM TOD
DURCH DIE KUGEL EINES POLIZISTEN *
(Voraussetzungen für die Realisierung der Geschichte)
Der Schah von Persien und seine Gemahlin weilen zu einem offiziellen Besuch in Berlin. Während die Repräsentanten des iranischen Sicherheitsdienstes ( SAVAK ) zum Eingreifen bereitstehen, um zu verhindern, dass die politische Wirklichkeit zum Kaiserpaar vordringt und dieses seinerseits auch nur ein Fragment dieser selben Wirklichkeit wahrzunehmen vermag, überbieten die Würdenträger Berlins einander, um den Staatsbesuch zu einer denkwürdigen und somit für die deutsche Wirtschaft lukrativen Episode im Leben der beiden Despoten zu machen.
(2. Juni 1967)
Der Henker hat bereits sein Opfer ausersehen, auch wenn er es vielleicht selbst noch nicht weiß; das Opfer weiß es
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