Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
erhält, verzieht sie eine Miene:
    Wir haben es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit getan, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen. Es war ein Fehler und ein Irrtum. Darüber werde ich aber nicht mit Ihnen diskutieren.Sie können aber vermerken, dass der Grund Machtlosigkeit ist. Doch oft ist die Gerechtigkeit auf Seiten der Machtlosen.
    Hinter der Maske ist Meinhofs Blick jedoch wachsam. Sie sieht, dass Baader während der Verhandlungen immer tiefer hinter die Barriere rutscht: offenbar zufrieden mit der Situation. Das Einzige, was sie zu diesem Zeitpunkt über ihn weiß, ist, was die Gerüchte vor dem Prozess berichteten. Ein Pillendreher, ein Exhibitionist, ein Boheme; ein Ganove, der seine Laufbahn mit dem Diebstahl von Motorrädern in München begann und sich dann hocharbeitete. Auf einem gewissen Niveau erhält jede Kriminalität einen gewissen Glanz, zumindest in den Augen der blasierten Bourgeoisie. So soll auch sie ihn sehen. Ulrike aber sortiert ihre Eindrücke inzwischen nach anderen Kategorien. In Baaders Blick sieht sie den des Entfremdeten . Wird er angesprochen: reagiert er mit Obszönitäten. Wird er gemustert: erwidert er die Blicke mit Verachtung. Sie versteht oder meint die Ursache dieser Verachtung zu verstehen. In Baader ist die bis zur Absurdität unwürdige Behandlung von Menschen durch den Faschistenstaat verkörpert. Daher die kriminelle Laufbahn. Was nichts anderes ist, als die unumgängliche Sichtbarmachung der Mechanismen in diesem makabren Spiel . So ist das Gesetz: Fügst du dich nicht, bist du ein Krimineller.
    Dann: ein Klopfen mit dem Hämmerchen; die Verhandlungen sind für diesen Prozesstag beendet. Ulrike steht jedoch noch lange genug in der Tür, um zu sehen, wie Ensslins ehemaliger Verlobter, Bernward Vesper, der Angeklagten überraschend einen großen Strauß roter Rosen bringt. Ensslin nimmt sie mit einem genierten Lächeln und einem ängstlichen Blick auf Baader entgegen. Ulrike bleibt auf dem Korridor stehen. Bernward kommt heraus, hochrot im Gesicht. Sie weiß, was sie tut, sie meint, was sie sagt. (An welches vorwurfsvolle Publikum richtet er diese Worte?) Glaube ich sofort , erwidert Ulrike trocken und geht, um einen der Verteidiger der Brandstifter aufzusuchen, einen gewissen Horst Mahler . Ein Einzelgespräch mit einem oder einigen der vier Aktivisten dürfte angebracht sein.
    *
    Heimwärts mit dem letzten Abendflug aus Frankfurt; Taxi von Tempelhof und erst spät im Bett. Der Auftrag bleibt: den Spaltenplatz zu füllen . Ulrike liegt wach, verwiesen auf den diesseitigen Teil jener Grenze, die die Brandstifter mit ihrem Handeln gezogen haben, sich voll bewusst, dass sie auch diesmal nichts anderes tun wird, als ihre Stimme mit ihrer inzwischen bereits gewohnten (und im Umkreis der Kommune I längst verhöhnten), sich selbst widersprechenden Argumentation zu erheben: » Gegen« Warenhausbrandstiftung spricht … »dafür« spricht … Um dann zu der gesicherten Schlussfolgerung zu gelangen, dass »es immer noch besser ist, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben« : eine Äußerung, die nicht einmal ihre eigene war, sondern von Fritz Teufel stammte.
    Dennoch gehen ihr die Bilder des Prozesses nicht aus dem Kopf. Andere Bilder:
    Sie sieht Ensslin an Baaders Seite. Die Art, wie er sie anfasst (mit weichem Griff um ihr Kinn, Daumen und Zeigefinger, die ihr Ohrläppchen pressen; seine Art zu lächeln und ihre Erwiderung dieses Lächelns, als sei all das ein Spiel . Oder – (das Spiel umdefiniert) – als beträfe das Geschehene niemanden sonst als sie beide. Eine Zone der Freiheit, hochgezogen ohne Rücksicht auf jene, die das Wort führen, die Macht haben und das Urteil erwirken; voller Gewissheit, dass diese Machthaber nie Zutritt zu dieser Zone erhalten werden. – Ist solch ein grenzenloser Utopismus überhaupt möglich?
    Sie schläft rasch ein, aber kurz bevor sie es tut, meint sie zu sehen, wie Ensslin den Blick über Baaders Schulter hebt und sie anschaut. Es ist kein Blick des Trotzes oder der Verachtung, wie man hätte erwarten können. Vollkommen offen, fragend, enthält er vielmehr Verwunderung. Seit wann , scheint er zu fragen, und über welche Wege bist du hierhergekommen? Ulrike wendet sich ab. (Ich verstehe es auch nicht, Gudrun.)

Vertane Möglichkeiten,
aussortierte Fotos

    Hamburg-Blankenese, 10. Oktober 1967. Ulrike allein, die Kinder sind längst im Bett. Ihre Hand streicht ihnen über die schweißnasse Stirn, eine

Weitere Kostenlose Bücher