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wären, die Herrschenden zu kritisieren, sie unter Kontrolle zu bringen und tatsächlich eine Öffentlichkeit zu erschaffen. Wenn wir hier eine Öffentlichkeit haben, dann im privilegierten Sinne, während die Öffentlichkeit in Form und Gestalt von Massenmedien, Manipulationszentren, den täglichen Produktions- und Reproduktionsorganen die Öffentlichkeit faktisch abgeschafft hat. Wir hingegen müssen sie mittels Diskussion und Aktion stets aufs Neue zeitweilig erschaffen, als Bedingung für die Möglichkeit, dass Öffentlichkeit sich in der gesamten Gesellschaft tendenziell an jenen Stellen durchsetzt, wo sie nicht existiert.
MEINHOF : Hat der Mord an Ohnesorg nicht jeden Versuch durchkreuzt, die Gesellschaft durch den Schritt-für-Schritt-Prozess mittels Selbstorganisation zu reformieren, deren Fürsprecher, Sie, Herr Dutschke, sind und der in gewisser Weise, wenn auch oft in leicht parodistischer Form, in den freien, sogenannten APO -Kollektiven betrieben wird? Ereignisse dieser gewaltsamen Art sind in der Geschichte eher von den kapitalbesitzenden Klassen angewendet worden, um den Repressionsdruck zu stärken, Springer intensiviert die Hetzjagd gegen die Intellektuellen, und im Ergebnis dessen nimmt die Spannung zwischen den Fraktionen zu, während Kurras straffrei ausgeht …?
NIRUMAND : Ich bin nicht sicher, dass Sie recht haben, Frau Meinhof. Ohne die Schockwirkung, die der 2. Juni ausgelöst hat, wäre die Argumentation der Neuen Linken in der Pluralität der Meinungen untergegangen, wäre sie vom Liberalismus einer Presse integriert worden, die meint, ihre Objektivität liege in einer Sowohl-als-auch-Stellungnahme zwischen These und Antithese. Durchdiese gelang es den Studenten der Gefahr zu entgehen, dass die Dialektik als notwendige äußere Autorität zu einer Art Ideologie der Spontaneität erstarrte und ihnen jede Möglichkeit zum organisierten Handeln genommen wurde.
DUTSCHKE : Genau. Macht ist ohne Gegenmacht nicht zu verstehen, ebenso wenig wie eine Aktion ohne die sie auslösende Repression zu verstehen ist. Solange die Herrschenden davon ausgehen, dass die geistige Unmündigkeit der Massen beibehalten wird, muss das Notwendige darin bestehen, zu einem kritischen, im guten Sinne »aufgeklärten« Denken zu erziehen.
NIRUMAND : Das ist ein Lernprozess. Gegen die Bestrebungen, die Universitäten der Herrschaft des Leistungsprinzips zu unterwerfen, stellt die studentische Avantgarde einen Wissenschaftsbegriff, der mit Dutschkes Worten »die Wissenschaft als einen Faktor der Befreiung des Menschen von der für sie nicht erfassbaren Macht« definiert, also als ein Instrument der Aufklärung und Bewusstwerdung, und daraus eine Verpflichtung zur politischen Aktivität herleitet …
PASCAL : Ich kann mir einen Menschen ohne Hände, Füße und Kopf gut vorstellen (denn nur die Erfahrung lehrt uns, dass der Kopf wichtiger ist als die Füße). Aber ich kann mir den Menschen nicht ohne Gedanken vorstellen. Dann gliche er einem Stein oder einem vernunftlosen Tier.
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Ulrikes Ambition bereits seit dem Aufbruch von Hamburg: ein Gegen-konkret mit der Basis in Berlin zu schaffen: ein offenes Forum, in dem echte Gegensätze anonym, kollektiv gegeneinander gestellt werden können, ohne Rücksicht auf Prestige und Karrierismus: eine journalistische Entsprechung zu Dutschkes freier »antiautoritärer« Universität. Wenn Klaus anruft, um sich nach den Kindern zu erkundigen und – aus Pflicht, Mitgefühl oder nur weil er einen neuenText zum Füllen seiner Spalten braucht – nachfragt, wie es mit ihrer Arbeit steht (Klaus: Findest du dort was, über das du schreiben kannst? ), lenkt sie die Frage sofort auf das, was sie will . Nicht, was er fordert , sondern was sie will : eine früher vollkommen unvorstellbare Situation.
Wie etwa eine zwölf- oder sechzehnseitige Beilage in konkret . Ich habe es recherchiert. Technisch ist es absolut machbar.
Und wie soll sich das tragen?
Wenn die Fragen, die dort aufgegriffen werden, nur wichtig genug sind, wird es sich bestimmt tragen. Und glaub mir, Klaus: Die Fragen, die wir vorhaben aufzugreifen, sind die wirklich wichtigen.
In diesem Fall hast du freie Hand. Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren, Ulrike.
Auch in diesem Punkt kannst du sicher sein. Die Ulrike, die du dir nicht »leisten« kannst zu verlieren, gibt keinesfalls auf. Die andere, darin sind wir uns einig, ist eher zu verschmerzen.
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Berlin-Hamburg, Februar 1960 (unterwegs). Ulrike erinnert
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