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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Bewegung, die stets die Erinnerung an Renates Hand auf ihrer eigenen Stirn wachruft. Renate im Reisedress neben dem Bett, ihr Blick hier und zugleich anderswo: Steh auf und zieh dich an, Ulrike; das Auto wartet.
    Diejenige, die jetzt für die Reise gekleidet wartet, ist Ulrike.
    Auszusortierende Fotos:
    * Ulrike mit frischgebackenem Ehemann in Taormina auf Sizilien (Hochzeitsglück mit Sonne über dem Meer und den romantischen Ruinen)
    * Ulrike mit Ehemann im Nachtklub von Cortina (prominente Personen und leichtgekleidete Frauen posieren mit Drinks)
    * Ulrike mit Feltrinelli in Paris (Gespräch über die Zukunft der Revolution im Schatten der Kastanienbäume)
    * Ulrike mit Eva Rühmkorf auf dem Gänsemarkt in Hamburg (Antiquitätenrundgang mit dem Ziel, Möbel für die Wohnung in Blankenese zu erstehen)
    Während Ulrike Fotos aussortiert, geht das Fest im Erdgeschoss mit unverminderter Stärke weiter. Es ist vier Uhr morgens, doch hat noch niemand Anzeichen zum Aufbruch erkennen lassen. Im Gegenteil, spontane Sprechchöre nehmen die alten Parteilieder auf, und diese laut grölend zieht man von Zimmer zu Zimmer:
    Die Partei, die Partei, die hat immer recht:
    GENOSSIN – es bleibet dabei!
    Wenn das ein normales Fest gewesen wäre, hätte Klaus jetzt seine Landmann-Preetz aus dem Schrank geholt und den Abend mit Schießübungen im Keller beendet. Als Zielscheiben dienen ein paar stark lädierte Wahlplakate mit Konrad ( »Keine Experimente« ) Adenauer und Franz-Josef Strauß. Die kleinkalibrige Waffe ist nicht mal für Ratten gut (nervöses Lachen) , aber bei diesem Leibesumfang , gemeint ist Strauß, muss man ja schon blind sein, um nicht zu treffen, stimmt’s?
    Das hier aber ist kein normales Fest. Klaus ist nicht einmal anwesend.
    Wo ist denn Klaus?
    Seit Monaten zusammen mit einer echten Revolutionärin (Klaus’ eigene Worte): einer bildschönen Griechin, die (wenn man Klaus glauben kann) den Widerstand gegen die Militärjunta in Athen persönlich anführt. Beide haben sich längst aus der Villa verdrückt und Ulrike zurückgelassen, um mit den restlichen Gästen ihren dreiunddreißigsten Geburtstag zu feiern. Bemerkungen: Sag, wie es ist, Ulrike, du bist doch nicht etwa eifersüchtig; ein bisschen Fremdgehen muss eine gute Frau schon aushalten können; es aber direkt an ihrem Geburtstag zu tun, arme Kleine … et cetera. Lächeln: teilnahmsvoll oder mit durchtriebenem Einverständnis. Die Entfremdung: total.
    Oben im Zimmer der Kinder packt Ulrike zwei Koffer: den kleineren mit Übernachtungssachen für sich selbst; den größeren mit Kleidung und Spielzeug für die Kinder. Geht die Treppe hinunter, vorsichtig die Koffer balancierend, um auf den Stufen abgestellte Gläser und Teller nicht hinunterzustoßen, während die Berufsrevolutionäre (jetzt wieder im Wohnzimmer angelangt) eines der alten Marschlieder der Internationalen Brigaden in Spanien anstimmen:
    Wir, Im Fernen Vaterland Geboren,
    Nahmen Nichts Als Hass Im Herzen Mit.
    Doch Wir Haben Die Heimat Nicht Verloren.
    Unsere Heimat Liegt Heute Vor Madrid !
    Eine junge Frau, eine von Klaus’ früheren Protegés, steht schwankend am Fuß der Treppe: der Clou des Abends – und eine gute Zusammenfassung ihres Lebens, wie es sich bisher gestaltet hatte: Willst du schon gehen, Ulrike?
    *
    Frau Meinhof, wir haben leider keine Zeit für Abschweifungen.
    Können Sie deshalb versuchen, sich in diesem Punkt etwas expliziter auszudrücken. Wann wurde der erste Kontakt zwischen Ihnen, Baader, Ensslin und Raspe aufgenommen?
    Manchmal ist mir, als hätte ich sie mein Leben lang gekannt.
    Frau Meinhof …
    Sie verstehen nicht. Relevant sind nicht Menschen, Zeiten oder Orte. Sondern der Zustand, in den dieses Land seine Bürger versetzt. Suchen sie eine Erklärung, dann suchen Sie dort. (Das aber würden Sie nie wagen.)
    *
    Rudi Dutschkes Schilderung des Zustandes in diesem Land:
    Sagen wir, dass in einem Wohnhaus im Stadtteil X ein heftiger Brand ausgebrochen ist. Mindestens eine Person ist tödlich verunglückt, mehrere mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Sagen wir, du wohnst in derselben Stadt und dass dich deine Fahrt mit der U -Bahn direkt unter das vom Unglück betroffene Gebiet führt. Aus irgendeinem Grund beschließt du jedoch, an der Station A auszusteigen. Die Entfernung zwischen A und X ist groß: Du hörst nicht die Einsatzfahrzeuge, spürst nicht den Brandgeruch. Du gehst in den nahegelegenen Blumenladen, kaufst deine Blumen und setzt deine Fahrt fort,

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