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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Bild ). Später in der kollektiven Küche mündet die geplante Auswertung in reiner Verwirrung. Baader immer irritierter. Weshalb war Petra nicht an ihrem Platz, warum stimmte die Karte nicht, und warum hatte sie keiner wegen des Lieferwagens gewarnt (Hergottnochmal, man hatte den Ort doch tagelang unter Beobachtung: Was hatten sie nur die ganze Zeit über getrieben)? Baader packt Geldbündel, offenbar erschrocken über den mächtigen Medienwirbel, den sie ausgelöst haben: Verdammt, wo steckt denn diese bürgerliche Fotze? Und ordnet den erneuten Aufbruch an. (Nur Ensslin vermag ihn zu beruhigen: Komm schon Baby, so schlimm ist es doch nicht …? )
    Lange nächtliche Fahrten. So hatte man es beschlossen. Der Wechsel zu weiter entfernten Orten musste im Schutz der Dunkelheit stattfinden. Meidet alle stark befahrenen Stellen; nehmt Nebenstraßen. Jan-Carl Raspe am Steuer, Ulrike auf dem Beifahrersitz. Sie denkt: Es ist wie bei einer Belagerung . Mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Eingeschlossenen fortbewegen, während die belagernden Kräfte stationär bleiben. Die kleinste Wegbiegung kann die Motorhaube eines wartenden Streifenwagens offenbaren. (Scheinwerfer aufgeblendet, Kennzeichen gelesen; darauf Blitzstart, Blaulicht und Sirenen.) Ulrike sieht den Ablauf komprimiert, ähnlich den comicartigen Fotokästchen, die an der Oberseite der BILD-Frontseite entlanglaufen:
    HAMBURG : »Fahrzeugkontrollen mit Maschinenpistole«
    MÜNCHEN : »Polizeipatrouillen entlang der Autobahn«
    ESSEN : »Jedes Kennzeichen wird kontrolliert«
    KÖLN : »Streifenwagen warten an der Kreuzung«
    Doch mit Jan am Steuer fühlt sich Ulrike merkwürdigerweise sicher. Eine seltsame Ruhe geht von ihm aus. Egal, was er gerade tut (am Verschluss einer Maschinenpistole dreht, eine Dose Bier öffnet, in der Zeitung blättert), immer ist es, als löse er sich von seinem eigenen Körper: die Augen gleiten sacht unter die dünnen Lider. Beängstigend, meinen manche (besonders Petra). Ulrike aber hat keine Angst. Sie folgt dem eintönigen Schweifen der Scheinwerfer über nackte Baumstämme, dann und wann ein Seitenweg, kaum mehr als zwei ausgefahrene, im Gras verschwindende Reifenspuren; Reflexe in den Scheiben eines abseits gelegenen Hofes. Zum ersten Mal seit langem nicht dieser ängstliche Blick in den Rückspiegel. Ulrike denkt an Jena: eine andere Belagerung. Zwei Häuserblöcke von daheim beginnt bereits das Fremde: eine feindliche Welt; aber sie hat ja Bubi, der sie schützt und leitet. Jetzt ertönt sein Pfeifen von irgendwoher aus dem Fichtendickicht, sein blasses Gesicht über der Hecke ein einziger großer Zuruf: Nichts in Sicht, du kannst rauskommen, Ulrike. In der Erinnerung scheint alles versunken in vegetativer Verwilderung, Blättergewölbe hoch oben über den beiden rennenden Kindern, so wie die Schatten der Bäume am Straßenrand nun ihr fleckiges Muster über die Windschutzscheibe ziehen; doch gibt es auch große, unbewachte Flächen, Grenzzonen , breite Straßen, deren Pflaster an den Trottoiren zersprungen ist, flimmernd in der Spätsommerhitze, offene Plätze, wo es selbst den Schatten unter einem festnagelt, wenn man gesehen wird: weiß werdende Angstgewölbe, Atemzüge, die in der Brust stecken bleiben – Bubi aber führt sie weiter, erneut hinein in geschütztes Gebiet. Er zeigt ihr Dinge: am Paradiesbahnhof das alte Eisenbahndepot mit verrosteten Waggonskeletten, die auf unkrautüberwucherten Abstellgleisen stehen; den alten Vogelturm auf dem Berg Jenzig, eine wacklige Holzkonstruktion, auf deren oberster Plattform er einmal ein verlassenes Nest gefunden hat, die Vogeljungen kaum mehr als dünne Säckchen zitternder nackter Haut. Unddann »die Schatzkiste«, eine beeindruckende Sammlung glänzenden Kühlerschmucks, den er von parkenden Autos abgeschraubt und in einem alten Schuhkarton vergraben hat, an »sicherer Stelle« unter einer Birke, deren Stamm einst ein starker Blitzschlag gespalten hatte: die eine Hälfte des Baums trägt im Sommer schweres, üppiges Grün; die andere ist nur ein totes, sperriges Skelett mit wenigen schwächlichen Trieben, die ihr Bubi verbietet anzufassen. Und nachts, wenn die Feuchtigkeit zunimmt, schwärmen die Insekten um das hohe Turmfenster, weil der Vater die Lampe aufs Fensterbrett gestellt hat. Er kennt sie alle beim Namen und zeigt Bilder von ihnen auf den Seiten der aufgeschlagenen Bücher: »Röhricht-Goldeule« , »Frostspanner« , »Wollafter« , »Apollofalter« ,

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