Theres
der Oberfläche fährt die Polizei fort, jedes Straßenstück zu durchkämmen, bei jedem mutmaßlichen Sympathisanten Hausdurchsuchungen vorzunehmen, und Herolds Kisten schwellen an, doch in der Welt darunter, in den dunklen Kammern unter den Glasfassaden der großen Zeitungshäuser, fressen sich die Buchstaben durch Druckwalzen und Papierbahnen und versehen die Frontseiten mit immer fetteren Schlagzeilen:
SCHONERS WITWE
»ICH TRÄUME JEDE NACHT VON
MEINEM TOTEN MANN!«
BOMBEN IM RATHAUS:
»ES KÜMMERT UNS NICHT,
OB MENSCHEN STERBEN«
BAADER DROHT:
»VOLKSKRIEG IN DEUTSCHLAND«
Es ist, als würde eine spezielle, nahezu selbsttätige Sprache geschaffen, mit der alles entsprechend derselben rhetorischen Formeln zermahlen und umgeformt wird. Die Folge: Die Menschen (Täter wie deren Opfer) treten in den Schatten der Schlagzeilen, und hervor tritt etwas anderes: der Widerschein der kollektiven Angst. Die prägt alles, was gesagt wird, von den Reden der Politiker über Kraft und Besinnung bis zu der Schilderung eines anonymen Lesers von seinem neuen Dasein in einem Land, das er nicht länger wiedererkennt:
Früher, wenn ich nach Hause kam und die Tür hinter mir schloss, wusste ich, dass ich mich sicher fühlen konnte. Wenn ich jetzt heimkomme, ist es, als würde ich die Tür hinter meiner eigenen Angst schließen. Es gibt niemanden hier drinnen, der mich verstehen würde, und niemanden dortdraußen, der es wagen würde, zu meinem Schutz herbeizueilen, wenn ich um Hilfe riefe. Es ist, als lebte man in einem riesigen Vakuum.
*
Auch Herold hat Angst, wenn nicht aus anderen Gründen, dann deshalb, weil ihm die Ereignisse mehr und mehr aus den Händen gleiten und weil die Zeit, die früher für ihn zu arbeiten schien, nun offenbar sein schlimmster Feind ist. Die Nächte, in denen er sich überhaupt Zeit zum Schlafen gönnt, schläft er unruhig. Denn in der Nacht werden Fakten zu Bildern, und aus all den von Herold gelesenen und analysierten Polizeiberichten wird nun ein monströses Szenario voller gestohlener Wagen, die auf der Autobahn mit zweihundert Kilometern in der Stunde zwischen den Fahrspuren hin- und herspringen, in den Feuergarben der Maschinenpistolen zersplittern Glasscheiben, eine Frauenleiche im Straßengraben (die von Petra Schelm ), im linken Auge, dem Eintrittsloch, das Blut zum riesigen Klumpen erstarrt, und dann – ein Anblick, den keiner von uns je vergessen wird – der Polizist Herbert Schoner, der tödlich verletzt auf den Gehweg kriecht und durch die Glastüren hinein in die Bank, um, wie er glaubt, nun endlich Schutz vor dem Kugelhagel zu finden, und dort in die Pistolenmündung des maskierten Mannes starrt. Gibt es Zeit für einen Moment der Gnade? Zwei Augenpaare begegnen sich. Es wäre möglich gewesen, dieses verrückte Morden nun zu beenden; doch nichts dergleichen geschieht. Ein gutgezielter Schuss in Schoners Brustkorb streckt den Polizisten leblos zu Boden. EINE WITWE UND ZWEI KLEINE KINDER BLEIBEN ZURÜCK .
Eines Nachts aber ist es, als würde eine erstaunliche Stille sich auch in Herolds Träumen ausbreiten. Es ist (so beschreibt er es später), als »liege ein anderes Licht auf den Straßen«. Frauen mit Kinderwagen bevölkern erneut die Bürgersteige, Jungen spielen Basketball, lachende Gesichter sind hinter den Wasserkaskaden der Springbrunnen zu sehen und in dem Streifenwagen am Rondell ist der diensthabende Polizeioffizier ruhig und sicher über dem Steuer eingeschlafen. Es ist so still in dieser seltsamen frühen Morgenstunde, dass man allein den Schreider Möwen hört, die langsam über die niedrigen Häuserdächer dahingleiten.
Herold wacht auf, unruhiger als je zuvor. Den Traum schreibt er der Meinhof zu. So weit hat er sich in sie hineinversetzt, dass er auch mehrere Wochen später fest davon überzeugt ist, dass sie es ist, die diesen Traum für ihn geträumt hat.
Es ist auch eine Erkenntnis. Das Wort eines erfahrenen Verbrechensbekämpfers an eine verwirrte und verirrte Ideologin. Im Grunde bist du für das hier nicht gemacht, Ulrike.
Bericht einer Belagerung
Fakten gegen Fiktion. Doch die Welt, die durch Fakten beschrieben und durch Fiktion entstellt wird, ist eine Welt in ständiger Verwandlung. In ihrer neuen Existenz »im Untergrund« spürt Ulrike das sehr deutlich. Ein schlecht geplanter, schlampig durchgeführter Banküberfall wird auf den Zeitungsaushängern zur ersten Stufe einer raffinierten, effektiv inszenierten Vernichtungsstrategie (Version der
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