Theres
»Trauermantel« , und der Prächtigste von allen: »der Ligusterschwärmer« , der seinen großen dicken Kopf gegen die Lichtreflexe im Glas stößt, während er sich taktfest hoch und runter bewegt, als hänge er dort draußen an einem langen, unsichtbaren Faden. Jetzt kleben Insekten zerschmettert auf der Windschutzscheibe, machen es beinahe unmöglich, etwas zu sehen. Jan zieht den Kopf heftig zwischen die Schultern, sagt plötzlich: Hier war es wohl , reißt das Steuer herum. Das Scheinwerferlicht gleitet an zwei breiten Kieferstämmen hinauf, dann wieder hinunter; die Stoßdämpfer federn die Unebenheit ab, und sie fahren, mit unsichtbarem Laub über die Wagentüren streichend, bis sich das Gebäude vor ihnen abzeichnet.
Ruhland im Hausflur. Nervös wie immer: zieht die Hände aus den Jeanstaschen, steckt sie wieder hinein. ( Wo seid ihr gewesen, ich dachte, ihr solltet schon gestern kommen … ). Jan ignoriert ihn, geht von Zimmer zu Zimmer, schaltet überall Licht an, das Ruhland ( aus Sicherheitsgründen ) nicht angemacht hat. ( Aus Sicherheitsgründen? Mann, wer soll uns denn hier entdecken, das liegt doch, verdammt noch mal, mitten im Wald ). Jan holt ein Bier aus dem Kühlschrank, setzt sich an den Tisch; trinkt ruhig und methodisch, wirft die Dose dann ins Spülbecken. Jan (zu Ruhland): Hast du angerufen? Ruhland gibt keine Antwort. Es ist schon nach elf, hast du angerufen? Die Sicherheitsvorschriften besagen täglich drei Meldungen an die Basis abzugeben: um elf, um sechs und wieder um elf. Hast du angerufen? Ruhland hebt die Hände. Ulrike sieht ihn an. Ein Ligusterschwärmer.Eher eine Schnake. Sie denkt: Unbegreiflich, dass sie das Bett mit ihm geteilt hat. Jetzt ist er natürlich eifersüchtig. Denkt weiter: Muss der Sache ein Ende machen, diesem ganzen banalen Austausch von gesellschaftlichem Kampf gegen private Zwangshierarchien. Sagt zu Ruhland: Geh schlafen ; legt sich dann zu Jan ins Bett.
Und Jan, beim Anblick ihres nackten, blassen Körpers dort im Halbdunkel: Du bist wirklich ein Anblick, Ulrike, ein Anblick für uns Arme und Enterbte. Ist es also Ziel und Voraussetzung des Kollektivs: dass sie urplötzlich für alle zugänglich sein soll?
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Verwilderung. Urplötzlich wird sie, die es gewohnt war zu leiten und zu delegieren, zum Opfer von Befehlserteilung. Anna , so lautet jetzt ihr Codename leicht ironisch, du fährst Petra nach Köln, bist ihre Unterstützung bei der Pass-Operation : ständig wiederholt sich das: »komm her«, »geh hin«, »setz dich«, »steh auf«, wie in der ersten Zeit in Jordanien, nur noch schlimmer; jedem Beliebigen kann es einfallen zu kommandieren, Personen, die sie nicht kennt, kaum zuvor gesehen hat. Der alte Repressionsdruck (den Verdruss schlucken zu müssen, ihn zurückzuhalten) macht sich erneut bemerkbar, wodurch seinerseits die Kopfschmerzen zurückkehren: nicht die normalen alltäglichen, sondern diese unkontrollierten , wie vor der Operation, als das eine Auge nicht zu fokussieren vermochte, was das andere sah. Lobotomie. Wenn wenigstens Andreas präsenter wäre. Aber auch Andreas hat sich verändert, hat sich in seine Schale zurückgezogen – die Baaderschale – mit Gudrun als selbsternannter Wächterin. Ihr fällt es zu, mit der Erklärung bei der Hand zu sein, wenn Baader in plötzlichem Zorn Küche oder Versammlungsraum verlässt. Sprachstudien: Andreas ist ein Kader. Er hat die schweren Führungspflichten zu tragen. Belastet sein Gemüt nicht mit Nebensächlichkeiten. (Ulrike: Als gelte es, mit dem Vorsitzenden Mao persönlich ins Gespräch zu kommen. )
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Tagsüber: Kopfschmerzen. Nachts: erneut dieser Belagerungszustand. Das Gefühl – umso viel stärker, weil es so dunkel und unpräzise ist – vollständig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Der Gedanke erzeugt ein Gegengewicht; das Bedürfnis, zur Forderung gesteigert, etwas zu tun , etwas Großes, Entschlossenes, etwas, das die Situation radikal verändert. ( Dieses sinnlose Hin- und Hergerenne : Das verändert gar nichts.) Aber versuch mal mit Baader oder seiner Stellvertreterin, zugleich Zeugin und Dolmetscherin, zu reden, und du erntest nur Beschimpfungen:
Ungeduld ist ein Symptom für Zweifel.
Zweifel ist ein Zeichen mangelnder Überzeugung.
Schwankst du, Anna?
Schwankst du im Glauben an die absolute Moral der Führung?
Ulrike mit Jan, mit Ruhland: neue Nachtfahrten. Ulrike am Steuer; schaltet das Autoradio ein:
Unsere Folge FANTASTISCHE FAKTEN kommt heute mit einer
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