Theres
es daran, dass du noch immer keinen reinen Tisch mit deiner spießbürgerlichen Herkunft, deiner faschistischen Erziehung gemacht hast.
Andreas, hör auf.
Die Gruppe hat ihre Unzufriedenheit mit dir kundgetan. Mit deinen Texten.
Er … Ich muss schreiben.
Schreiben? Nicht mal dazu taugst du.
Man nehme nur diesen letzten Entwurf, den du uns zur Beurteilung vorgelegt hast. Ein einziges langes zusammenhangloses Theoriegeschwafel. Man könnte fast glauben, du schreibst für diese Professorenidioten, die so erpicht darauf sind, dir unter die Arme zu greifen. Sei KONKRET . Halte dich an SACHVERHALTE .
*
Anna / Ulrike rücklings auf ihrem Bett in einem weiteren Zimmer, in einer weiteren Professorenwohnung. Frankfurt, Hamburg, Kassel? Müsste sie sich erinnern? Sie erinnert sich nicht: starrt auf den Zigarettenrauch,der in durchsichtigen blauen Kringeln zum Fenster aufsteigt. Vom Hof draußen Kinderspiellaute. Kindheitslaute. Sie denkt: Am Anfang ist es einfach. Die Zusammenhänge lassen sich überblicken, man hat sein ganzes Leben in der Hand. Es ist, wie wenn man Flüssigkeiten trennt; das Trübe – die Lebensschlacke, die Wortschlacke: all das Totgelebte – sinkt zu Boden. Darüber nur eine reine, blanke, klare Fläche; durchsichtig: wie der Himmel im Morgengrauen, bevor der Tag seinen Anfang nimmt. Dann: Schritt für Schritt schlämmt alles zu, der Ausblick trübt sich, alles zerfließt. Sie denkt: Man muss sich konzentrieren . Einzuführen sind: Disziplin ; Überwachungspflicht ; ständige Selbstkontrolle . Kurz gesagt: die Mauern höher ziehen . ( Wie auch immer das gehen soll, wenn man kaum zwei Minuten für sich selbst hat, nicht einmal zwei Minuten, um sich auf einen einzigen vernünftigen Gedanken konzentrieren zu können.)
Denkt an die Kinder. Dann denkt sie an »das Dokument«. Meins nennt es so. Die Worte von Renate, der Verräterin, ganze zwei Seiten in konkret vollgeschmiert; unter der Überschrift: GIB AUF , ULRIKE ! Natürlich war es Klaus, der sie überredet hat. Er gibt nicht auf. Auch jetzt, wo es ihm mit Gewalt gelungen ist, die Kinder zurückzuholen, bietet er subversive Anstrengungen auf, um sie möglichst zu kompromittieren und verdächtig zu machen. Meins: Dieses Dokument wird man dir ankreiden, Ulrike; egal, wie deine Reaktion auch ist, was du auch tust, man wird es dir ankreiden. Was für eine Ironie: über eine Salonsozialistin in Gewissensnöten fallen zu müssen:
Du bist anders, Ulrike. Ganz anders, als die Leute meinen, die dein Bild auf dem Steckbrief gesehen und von dir in Presse, Funk und Fernsehen gehört haben. Wer dich näher kennt, weiß: Du knallst nicht jeden nieder, der sich dir in den Weg stellt. Du hast Ängste, wie alle Menschen sie haben. Aber du bist tapfer, tapferer als die meisten. Und du stehst für deine Freunde gerade.
(Aber das Leben ist jetzt anders; eine ganz andere Lebensform.) Dennoch kann sie nicht umhin, an Renate zu denken. Wer gesagt hat, sie seien sich ähnlich, hat Fotos von ihnen beiden gesehen und festgestellt: dieselbenAugen, dasselbe Lächeln? Denkt daran, wie sie in der Tür zu Renates Arbeitszimmer steht, sie am Schreibtisch sitzen sieht mit dem Rücken zu ihr, der Nachtsender läuft, während Renate schreibt – könnte Jena sein! –, Zigarettenrauch hängt als große blaue Wolke über den Möbeln im Zimmer; und wie sie später, lange nachdem Renate schlafen ging, zurückschleicht ins Arbeitszimmer hinunter, ein Blatt aus dem Stapel der bereits beschriebenen Papiere, plus ein unbeschriebenes aus der Schublade nimmt und sich ans Kopieren setzt: Wort für Wort, Windung für Windung, bis sie endlich in der Hand spürt, dass sie schreibt, wie Renate schreibt; ihr gleichwertig in allem.
Du hast den jüngeren unter deinen Genossen voraus, dass du schon politisch engagiert warst, als sie noch teilnahmslos die Schulbank drückten. In der Anti-Atombewegung 1958/59 bist du nach vorn gegangen. Du weißt also, dass politische Bewegungen plötzlich entstehen können, wieder abebben und dass man im Amoklauf nichts gewinnt.
Sie denkt: muss antworten . Ihr erster Gedanke, fast ein Reflex. Aber Baader verwehrt es ihr: Du antwortest nicht. Wenn du antwortest, gestehst du ein, dass es ein Bedürfnis, einen Grund zur Rechtfertigung gibt. Wir handeln jetzt kollektiv, als Gruppe; und die Gruppe hat beschlossen, dass es das Beste ist, diese Hexe totzuschweigen … ( Denkt: Warum tust du das, Renate? Warum schreibst du, als wüsstest du etwas über das Schicksal von
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