Theres
interessiert. Aus rein pragmatischen Gründen: Das Motiv kann denkbar durchsichtig sein; doch kann auch jeder Beliebige ein Motiv haben. Erst wenn du den Menschen hinter dem Delikt verstehst und aus welchen Beweggründen er gehandelt hat, lässt sich das Motiv einer konkreten Person und einer konkreten Situation zuordnen. Die Presse hingegen beschäftigt sich primär mit Ereignissen , Tatsachen und Phänomenen, an die man Menschen binden kann; auch wenn es im Grunde genommen gleichgültig ist, wer diese Menschen sind und aus welchen Motiven heraus sie gehandelt haben. In dieser Phase (der ersten Terrorwelle: Mai 1970 - Juni1972) kommt es in rascher Folge zu einer Anzahl von Vorkommnissen, bei denen es in »bestimmten Fällen« »triftige« Gründe zu der Vermutung geben könnte, dass eine gewisse Gruppe (die Baader-Meinhof-Bande oder dieser Gruppe nahestehende Personen) dahintersteckt. Solche Unterscheidungen werden in der sich ausbreitenden Massenhysterie jedoch nicht gemacht: Alle Bombenattentate, Mordversuche, Banküberfälle und Autodiebstähle werden per definitionem zum Werk der Baader-Meinhof-Bande, was noch zur weiteren Verstärkung der Hysterie beiträgt.
Genau dagegen reagiert Heinrich Böll, als er im Spiegel seinen berüchtigten Artikel veröffentlicht, der in der Forderung mündet, Axel Springer vor Gericht zu stellen: »wegen Volksverhetzung«. Als Ausgangspunkt nimmt er den Polizistenmord in Kaiserslautern. Ohne jegliche Grundlage für diese Behauptung schreibt Bild der Baader-Meinhof-Bande den Mord zu. Ursache: Vor Ort soll eine Frau gesehen worden sein. Frauen gibt es viele, doch gibt es nur eine Meinhof (d. h. eine Person, die solcher Handlungen fähig ist): Ein seltsamer Zirkelschluss lässt nur diese Folgerung zu. Lynchjustiz , schreibt Böll, und ändert dann seinen Argumentationskurs, appelliert an die Entscheidungsträger des Landes. Haben Sie vergessen, was es bedeutet, verfolgt, ständig auf der Flucht zu sein? Als Politiker, als Kriminelle? Ein Appell, der kaum ungehört bleiben kann unter denen, die lebendige Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus haben. Schließlich bittet er die 60 Millionen Einwohner der Bundesrepublik um Verständnis für die sechs desperaten Individuen, die von der Hetzkampagne der Presse und Polizei betroffen sind:
Es ist eine Kriegserklärung von verzweifelten Theoretikern, von inzwischen Verfolgten und Denunzierten, die sich in die Enge begeben haben, in die Enge getrieben worden sind und deren Theorien weitaus gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist … Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt, sie weiß, was sie tut und getan hat, aber wer könnte ihr sagen, was sie jetzt tun sollte? Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten?
Muss es so kommen? Will Ulrike Meinhof, dass es so kommt? Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit? Selbst wenn sie keines von beiden will, einer muss es ihr anbieten. Dieser Prozess muss stattfinden, er muss der lebenden Ulrike Meinhof gemacht werden, in Gegenwart der Weltöffentlichkeit. Sonst sind nicht nur sie und der Rest ihrer Gruppe verloren, es wird auch weiter stinken in der deutschen Publizistik …
Der Artikel zieht eine gewaltige Debatte nach sich. Die Debattierenden spalten sich nicht in Gruppen für oder gegen Böll; vielmehr bietet diese Diskussion jedem Einzelnen die Möglichkeit, seine Angst, sein Unbehagen und seinen Schrecken vor dem kundzutun, was mit der deutschen Rechtsordnung geschehen kann oder wird, wenn man gefährlichen Kriminellen oder andersdenkenden ideologischen Gruppierungen auf diese Weise einen Weg öffnet, ungestraft in die Gesellschaft zurückzukehren. Böll ruft zur Besinnung auf, aber schreibt selbst unbesonnen , schreibt Der Spiegel , und Die Welt : Hitler hatte zu Beginn nicht einmal sechs Anhänger, und wir wissen nur zu genau, was mit den restlichen sechzig Millionen geschah.
In dieser angespannten Situation verfasst Herold einen internen Bericht, den er an Befugte im BKA und in den deutschen Innen- und Justizministerien schickt:
INTERNE MITTEILUNG BETREFFS DES POLIZISTENMORDES IN KAISERSLAUTERN
Kommentar:
Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um die bislang bestgeplante und auf schonungsloseste Weise durchgeführte Aktion handelt. Man beachte beispielsweise, dass die Bankräuber ein rasches Polizeieingreifen vorausgesetzt und im Voraus die
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