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Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Titel: Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kurzke
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berauscht. Er vergißt die Erkenntnis, dieihm zuteil wurde, noch am gleichen Tage und zieht keinerlei Konsequenzen aus ihr, obgleich der Roman noch über dreihundert Seiten Platz dafür gehabt hätte. Statt dessen geht es mit ihm abwärts. Die Sympathie mit dem Tode geleitet ihn bis zu seinem Ende im Krieg.
    Die Handlung des Romans ist rasch erzählt. Der Hamburger Patriziersohn Hans Castorp will vor Beginn seiner Ingenieursausbildung noch eine Erholungsreise machen und besucht seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen in einem hochgebirglichen Sanatorium in Davos. Die Welt der Kranken zieht ihn in ihren Bann. Aus den drei Wochen werden sieben Jahre, und erst der Kriegsausbruch versetzt den jungen Mann wieder in die Welt des Flachlandes zurück. Als Soldat, verloren im Gewimmel der Schlacht, kommt er uns aus den Augen.
    Das ist keine Bildungs-, sondern eine Entbildungsgeschichte. Die Grundbewegung ist abwärts, nicht aufwärts. Es geht wie schon in
Buddenbrooks
um Verfall und Dekadenz, um die Verfeinerung des Geistes bei vitaler Geschwächtheit, um den Schiffbruch der Vernunft beim Ansturm der Sinnlichkeit. Wie im
Tod in Venedig
, zu dem
Der Zauberberg
das komische Gegenstück bildet, erliegt hier ein Mann den Verführungen des Todes und der Liebe.
43
Ironie
    Aber das klingt viel zu ernst. Der Tod und die Liebe zeigen sich in diesem Roman von der komischen Seite. Das Leben überhaupt zeigt sich von derkomischen Seite. Es gibt nichts wirklich ganz und gar Ernstes, betrachtet man die Dinge unter dem Blickwinkel der Ewigkeit. Gott ist ein Ironiker. Thomas Mann bekanntermaßen auch. Seine Ironie ist umfassend. Es geht nicht um ein Stilmittel, nicht um die sogenannte rhetorische Ironie, bei der man das Gegenteil des Gemeinten äußert und nur der Kontext die richtige Deutung ermöglicht – «Prächtiges Wetter heute», wenn es draußen nebelt und näßt. Es geht auch nicht nur um die sogenannte romantische Ironie, also um die Selbstthematisierung des Kunstwerks, auch wenn Mann sich in dieser Tradition virtuos bewegt und alles schön Gesagte einen lächelnden Doppelgänger mitzuführen scheint, der spöttisch flüstert: «Habe ich das nicht schön gesagt?» Es geht vielmehr um eine fundamentale, quasi religiöse Ironie, die allem und jedem gilt, weil alles, was immer ein Mensch tun und sagen kann, triebgesteuert, unvollkommen und vergänglich und deswegen zum Lachen ist. Ironie relativiert alles, und zwar zu Recht, denn alles ist eitel, wie schon der Prediger Koheleth im Alten Testament sagt (Koh 1,1). Sie ist frech und schwatzhaft und macht sich über alle großen Sprüche lustig, aber sie ist zugleich demütig, fromm und bescheiden, weil sie auch über sich selber lacht und sich einbezieht in die Kritik.
    «Ironie ist Erotik», so definiert Mann in den
Betrachtungen
, und präzisiert, Ironie sei «der Selbstverrat des Geistes zugunsten des Lebens».[ 5 ] Das ist nicht gerade eine sehr komfortable Position für den Geist. Er ist sozusagen stets unglücklich verliebt. Der Geist (der Kopf, der Verstand, die Intelligenz) liebt leiderdas Leben (die Sinnlichkeit, den Körper, den Unterleib, die Triebe), obgleich dieses nur sich selber will und die Liebe nicht erwidert. Die Liebe des Geistes ist «Selbstverrat», weil er nicht den Geist liebt, sondern das Geistlose, zum Beispiel Knaben, die nichts als schön sind, mit denen er aber kein vernünftiges Wort reden könnte. Weil er das weiß, weil er die Sehnsucht und den Trieb in allem vermeintlich Geistigen kennt, kann er sich selbst nie völlig ernst nehmen, ist er eben ein Ironiker.
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Erotik
    Unter dem Gesichtspunkt der Kunst ist Sexualverdrängung etwas Gutes, denn sie nötigt zur Sublimierung, und Sublimierung ist Kultur. In seinem Tagebuch notierte Thomas Mann: «Der Zbg. wird das Sinnlichste sein, was ich geschrieben haben werde, aber von kühlem Styl.»[ 6 ] Das leuchtet nicht ohne weiteres ein. Es kommt auf tausend Seiten nur zu einer einzigen Liebesnacht, und von der erfahren wir nur auf Umwegen, in Wendungen wie: daß Hans ein Bleistift geliehen wurde, daß er ihn zurückgegeben habe und daß sich die Rückgabe in den einfachsten Formen vollzog. Trotzdem ist der ganze Roman getränkt von Sinnlichkeit. Je unaussprechlicher der Sexualakt selber ist, desto mehr profitiert davon das Aussprechliche. Seine ganze Umgebung wird sexualisiert. Überallhin breitet sich Vorlust aus. Mit dem Verdrängungsgrad steigt die sexuelle Ausdeutbarkeit, steigt die Symbolfähigkeit und

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