Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
-trächtigkeit aller Vorgänge und Dinge. Der Zauberberg-Roman ist deshalbdas Sinnlichste, weil in ihm die gewöhnlichsten Lebensdinge erotisiert werden – der Bleistift und das Rauchen, das Fieberthermometer, die horizontale Lage, das Röntgenbild einer Lunge, das Duzen, die schrägsitzenden Augen und die ungepflegten Schulmädchenhände. Und er ist «von kühlem Styl», weil die Sinnlichkeit nicht schwül ist, sondern ironisch und artistisch.
45
Psychoanalyse
Das wirkt alles, als hätte Thomas Mann schon damals Sigmund Freud gelesen. Hat er auch, aber seine Kenntnisse waren noch oberflächlich, möglicherweise nur die eines aufmerksamen Zeitschriftenlesers. Ein großer Psychologe war er jedoch vor der Freud-Lektüre schon. Daß die Triebe stärker sind als die Vernunft, hatte er schon bei Schopenhauer gelesen, daß das nicht einmal etwas Schlimmes ist, bei Nietzsche. Psychologisches Durchschauen hielt er früh für eine Grundübung des Künstlers. Seine Intellektualität als Künstler bestand ganz wesentlich darin, daß er in allem vermeintlich Geistigen das Triebhafte auszumachen wußte. So war er ein Psychoanalytiker vor und neben der Psychoanalyse, die sich in der Weimarer Republik gerade erst zu etablieren begann. Sigmund Freuds Werk beginnt er Ende 1925 zu studieren, und zu Freud selbst entwickelt sich brieflich und 1932 auch persönlich ein herzliches Verhältnis. Als
Der Zauberberg
geschrieben wurde, fehlten noch die genauen Kenntnisse, und so kommt es, daß der PsychotherapeutDr. Edhin Krokowski, der im Sanatorium über die Liebe als krankheitsbildende Macht doziert, eine Karikatur geworden ist – ein schlüpfriger Sexualist ohne ärztliches Ethos, der bevorzugt junge Damen aushorcht.
46
Leitmotiv
Thomas Manns Stil ist musikalisch. Länge und Kürze von Silben, Sätzen und Pausen rhythmisieren seine Prosa, und zusammen mit dem Wechsel der Tonhöhen ergibt sich eine Melodie. Der Musik abgelernt ist auch seine Verwendung von Leitmotiven. Handelt es sich bei Carl Maria von Weber im
Freischütz
oder in Richard Wagners
Ring des Nibelungen
um stehend wiederkehrende Tonfolgen, die Situationen oder Personen charakterisieren, so bei Thomas Mann um stehend wiederkehrende Wortfolgen oder einzelne Wörter, die zu Situationen oder Personen gehören und mit der Zeit eine immer größere Bedeutungsaufladung erfahren. Im
Zauberberg
sind solche Leitmotive der Schnee und der Husten, das Licht und der Strand, die Musik und das Lachen, der Westen und der Osten. Sie gruppieren sich zu Familien, die Familien wiederum zu einem großen antithetischen System, das man mit Schopenhauers Begrifflichkeit nach «Wille» und «Vorstellung», mit Nietzsche nach «Dionysisch» und «Apollinisch» oder mit Freud nach «Es» und «Ich» ordnen kann.
Die Leitmotivtechnik gehört zum Handwerkszeug. Man kann an ihr studieren, wie man es macht, wenn man Künstler ist. Noch heute kann man es somachen. Man kann einen Zettelkasten (oder sein digitales Pendant) aufbauen und dann mit System Bedeutungen erzeugen. Ein erstes, noch unauffälliges Vorkommen des Motivs präludiert, eine Hauptstelle folgt, die die Bedeutung expliziert, einige weitere Stellen vertiefen sie und verknüpfen sie mit anderen Kontexten, eine letzte Stelle schließt die Kette ab. So geht es zum Beispiel mit dem Motiv «Uhr». Es symbolisiert Zeit und Zeitlosigkeit. Am Anfang wird oft auf die Uhr geblickt, man weiß immer, wie spät es ist. Bald aber verwirren sich die Ansagen, die Zeit scheint im Kreis zu laufen, die Motivik erweitert sich um stehenbleibende, in Sprüngen arbeitende oder rasch abschnurrende, verdorbene Uhren, und am Ende heißt es von Hans Castorp, «seine Taschenuhr trug er nicht mehr».[ 7 ]
Thomas Mann hat allerdings keine Zettelkästen angelegt. Sein Kopf generierte das Bezugsnetz, das jeder Einzelheit ihren Platz zuwies, automatisch. Es ist sein ungeheures weltordnendes Vermögen, was zu der tiefen Befriedigung führt, die den Leser der großen Romane erfüllt. Mag das erzählte Geschehen noch so traurig sein, zeugt es doch immer von einer großen Ordnung. Alle Dinge und Vorgänge haben die Kraft, symbolisch zu sein. Ein Himmel von Bedeutungen spannt sich aus über der erzählten Welt.
47
Zigarre
Das Fieber wurde im Munde gemessen, mit einem Thermometer, das im Roman als «Quecksilberzigarre» bezeichnet wird.[ 8 ] Die Zigarre aber ist, dasweiß man seit Freud und Bill Clinton, ein Phallus. Die sexuelle Symbolik wird im
Zauberberg
jedoch nur
Weitere Kostenlose Bücher