Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Erfüllung, aber doch schon ohne die jugendliche Intensität des Gefühls, das Himmelhochjauchzende und tief Erschütterte jener zentralen Herzenserfahrung meiner 25 Jahre. So ist es wohl menschlich regelrecht, und kraft dieser Normalität kann ich mein Leben stärker als ins Kanonische eingeordnet empfinden, als durch Ehe und Kinder. –
Die Namen lassen sich inzwischen alle entschlüsseln und sogar literarischen Figuren zuweisen. A. M. ist Armin Martens (Hans Hansen in
Tonio Kröger
), W. T. ist Williram Timpe (Pribislav Hippe im
Zauberberg
), P. E. ist Paul Ehrenberg (Joseph in
Joseph und seine Brüder
, Rudi Schwerdtfeger im
Doktor Faustus
) und K. H. ist Klaus Heuser (Amphitryon-Essay). Bei den erwähnten «Aufzeichnungen» handelt es sich vor allem um ein Gedicht, das Thomas Mann in der Zeit seiner Liebe zu Paul einmal gemacht hat. Es findet sich in zwei Teilen im siebten Notizbuch und lautet im Zusammenhang:[ 54 ]
Dies sind die Tage des lebendigen Fühlens!
Du hast mein Leben reich gemacht. Es blüht – –
O horch, Musik! – – An meinem Ohr
Weht wonnevoll ein Schauer hin von Klang –
Ich danke dir, mein Heil! mein Glück! mein Stern! –
Was war so lang? –
Erstarrung, Öde, Eis. Und Geist! Und Kunst!
Hier ist mein Herz, und hier ist meine Hand
Ich liebe Dich! Mein Gott … Ich liebe Dich!
Ist es so schön, so süß, so hold, ein Mensch zu sein?
Nun fehlt nur noch die Brücke zum Joseph-Roman, denn, so schreibt Thomas Mann ebenfalls an jenem 6. Mai in sein Tagebuch, er habe sich «nach den Leidenschaftsnotizen jener Zeit im Stillen schon umgesehen in Hinsicht auf die Passion der Mut-em-enet, für deren ratlose Heimgesuchtheit ich zum Teil werde darauf zurückgreifen können.» In der Tat findet man Mut-em-enet, die Frau des Potiphar, im ersten Jahr ihrer Verfallenheit ein Dankgebet sprechen, dessen Text bekannt anmutet: «O Himmelstage des lebendigen Fühlens! … Du hast mein Leben reich gemacht – es blüht!» Und sie flüstert: «O horch, Musik! … An meinem Ohr weht wonnevoll ein Schauer hin von Klang.» Und trotz aller Liebesqual, weil sie ja nicht erhört werden kann, stammelt sie: «Ich danke dir, mein Heil! Mein Glück! Mein Stern!»[ 55 ] Man sieht, daß im schönen Joseph die Erinnerung an P. E. herumspukt und daß ein Segment der Mut-em-enet-Figur als Selbstporträt des Dichters verstanden werden muß.
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Keuschheit
Es gibt harte und weiche Ausdrücke für die Scheu, die schon der junge Thomas Mann gegenüber der körperlichen Berührung an den Tag legte. Zu den harten gehören Verdrängung, Versagensangst und Impotenz, zu den weichen Enthaltsamkeit, Schamhaftigkeit, Vorbehaltenheit, Reinheit und Keuschheit. Thomas Mann fühlte sich, was seine homoerotischen Gefühle betraf, zur praktischen Enthaltsamkeit gezwungen, aus vielen Gründen. Als Künstler gewinnter gerade dadurch eine Art Freiheit.
Von Josephs Keuschheit
heißt ein Kapitel des Romans, das sieben Gründe zur Verteidigung dieser altmodischen Tugend nennt. Es handle sich dabei keineswegs um gimpelhafte Unfähigkeit, sondern im Gegenteil um eine Gesamtdurchdringung der Welt mit Liebesgeist, wie sich der Erzähler mit erstaunlichem Pathos ausdrückt. Anstelle des einen oder der einen Geliebten liebt der Künstler die ganze Welt, so muß man das wohl übersetzen. Sein Triebziel ist ein höheres als der Beischlaf mit irgend jemand. «Er war gottverlobt», so faßt der Erzähler den ersten der sieben Gründe zusammen, und «er trug dem besonderen Schmerze Rechnung, den Treulosigkeit zufügt dem Einsamen». Man erfährt beiläufig, daß Gott einsam ist und Liebe braucht. Der zweite Grund ist die Treue gegenüber Potiphar, dem Eunuchen, den zu hintergehen besonders niedrig wäre. Der dritte Grund ist, daß Joseph «nicht Ziel, sondern Pfeil sein wollte der Lust».[ 56 ] Der vierte Grund ist Josephs innere Vornehmheit und Vorbehaltenheit, der fünfte ist der Vater (was würde Jaakob dazu sagen?), der sechste ist die Nähe von Lust und Unterwelt (von Eros und Todestrieb, freudianisch gesprochen), der sich Josephs helle Geistigkeit entziehen will, der siebte ist die generelle Anrüchigkeit der Nacktheit und der Entblößung. Freilich sind das für Joseph immer zugleich Ausflüchte, denn zunehmend sucht er die Nähe zum Verbotenen, um «ein Virtuosenstück der Tugend zu vollbringen».[ 57 ] Das gelang ihm schließlich, aber nur mit knapper Not. Kurz bevor er entfloh unter Hinterlassung seines Obergewandes, «stand sein Fleisch auf
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