Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
der Mann mit der Arche, sondern auch der Erfinder des Weinbaus, der betrunken im Zelt liegt mit aufgedeckter Scham.
Das innerste Motiv der angesichts des bisherigen Werks zunächst sehr ungewöhnlichen Stoffwahl mag die Geschichte vom keuschen Joseph gewesen sein, jenem schönen Träumer, der sich von der Frau des Potiphar nicht verführen läßt. In sie ließ sich das alte Tonio-Kröger-Thema vom Künstler einbringen, der vom Leben der Gewöhnlichen ausgeschlossen ist. Joseph und seine Brüder: Das ist mythisch verfremdet wieder der Künstler und die Bürger, der Träumer und die Täter, der Erkennende und die Getriebenen, der Geist und das Leben. Die Brüder werfen ihn in die Grube und verkaufen ihn nach Ägypten. Das Leben schlägt zu. Es verbannt den Geist. Es will nicht von hochmütigen Träumern durchschaut und erledigt werden.
Aber die pessimistische Optik des Frühwerks herrscht nicht mehr allein. Ein optimistischer, oft sogar lustiger Ton greift um sich und behält schließlich das Feld. Daß Joseph nach zweimaliger Brunnenbuße Pharaos Träume deutet, daß er in den sieben fetten und den sieben mageren Jahren zum ErnährerÄgyptens wird und daß er sich in einem langen Happy-End, das der Erzähler genießerisch auskostet, schließlich auch mit seinen Brüdern versöhnt, paßte wunderbar in ein neues moralisches Konzept, denn Thomas Mann selbst wollte jetzt allen Geistigen mitteilen, was er aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs gelernt hatte: daß der Künstler politische Verantwortung tragen und dem Leben dienen muß. Der Kampf gegen den NS-Staat bot reichlich Gelegenheit, für diese neue Rolle einzustehen.
Joseph und seine Brüder
ist Thomas Manns eigentliche Antwort auf Hitler. An den Gründungsgeschichten des Volkes Israel zeigt er die Gründungsgeschichte der Humanität. Versöhnt sind nun Geist und Leben; Joseph und die Brüder «lachten und weinten zusammen, und alle reckten die Hände nach ihm, der unter ihnen stand, und rührten ihn an, und er streichelte sie auch. Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern.»[ 48 ]
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Lange Sätze
Thomas Mann gilt als Mann der langen Sätze. Gleich im ersten Abschnitt des Vorspiels findet sich ein Exempel. Über anderthalb Seiten fast erstreckt sich ein virtuos aufgetürmtes Satzgebäude, dessen Hauptsatzkern nur lautet: «Der junge Joseph […] erblickte in einer südbabylonischen Stadt namens Uru […] den Anfang aller […] Dinge.»[ 49 ] Aber der riesige Roman beginnt mit einem kurzen Satz: «Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.» Es gibt Hunderte von kurzen Sätzen in Thomas MannsWerk. Oft finden sie sich in exponierter Stellung. Betrachtet man nur die Anfänge der Erzählungen, macht man sogleich reiche Beute. «Die Amme hatte die Schuld.» (
Der kleine Herr Friedemann
) «München leuchtete.» (
Gladius Dei
) «Hier ist ‹Einfried›, das Sanatorium!» (
Tristan
) «Still! Wir wollen in eine Seele schauen.» (
Ein Glück
) «Etwas erzählen? Aber ich weiß nichts. Gut, also ich werde etwas erzählen.» (
Das Eisenbahnunglück
) Auch bei den Schlüssen wird man fündig. «Aus.» (
Luischen
) «Kindlein, liebet einander …» (
Die Hungernden
) «Cito et velociter!» (
Gladius Dei
) «Und dann fuhren sie Lobgott Piepsam von hinnen.» (
Der Weg zum Friedhof
) «Er hatte ein gewisses Verhältnis zum Leben.» (
Beim Propheten
) «Beganeft haben wir ihn, – den Goy.» (
Wälsungenblut
) «Und alles Volk sagte Amen.» (
Das Gesetz
)
Länge und Kürze sind rhythmische Elemente. Lange Sätze rollen, kurze Sätze stoppen. Nach vielen langen Sätzen wirken kurze Schlußsätze klanglich wie ein Punktum: Ende, aus, keine Diskussion. Kurze Anfangssätze sind Doppelpunkte, die eine Erläuterungserwartung auslösen, Schocks, die aufgearbeitet werden müssen. Lange Anfangssätze hingegen führen behutsam in eine Situation hinein. Lange Sätze am Ende verklingen wie ein Diminuendo in der Musik. Thomas Manns Erzählungen sind entweder zwischen kurze Anfangs- und Schlußsätze gespannt (
Gladius Dei
,
Das Gesetz
) oder sie erstrecken sich zwischen langen (
Tonio Kröger
,
Der Tod in Venedig
); sie können kurz beginnen und lang enden (
Der kleine Herr Friedemann
,
Tristan
) oder sie können lang beginnen und kurz enden (
Luischen
,
Wälsungenblut
). Jede dieserMöglichkeiten stimmt einen anders austarierten Rhythmus an, eröffnet einen anderen Rahmen für Spannung und Entspannung, Breite und Höhe, Legato und
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