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Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser

Titel: Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kurzke
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Hermeneutik, das heißt, sie erzeugt den Sinn nicht nur auf der zweidimensionalen Ebene sozialer Kommunikation, sondern in einem dreidimensionalen Raum, in dem der Sinn als dichtes Netz feiner Verknüpfungen über oder unter dem Geschehen mitläuft, wie auf einer Mysterienbühne, wo das menschliche Handeln stets durch ein göttliches auf einer Oberbühne und ein teuflisches darunter kommentiert wird.
    Die vertikale Hermeneutik hat eine alte christliche Tradition, die sich im frühen Mittelalter als Lehre vom vierfachen Schriftsinn ausgebildet hat und nicht nur auf die Heilige Schrift, sondern auf die Welt überhaupt angewendet werden konnte. Danach hat jede Schriftstelle, jede Naturerscheinung, jedes Ding und jedes Ereignis einen vierfachen Sinn: 1. den buchstäblichen oder sensus litteralis, 2. den geistlichen Sinn oder sensus allegoricus, 3. den Praxis-Sinn oder sensus moralis, 4. den Zukunftssinn oder sensus eschatologicus. Wie Stockwerke bauen sich diese Sinnebenen über jedem Geschehen auf. Erstaunlicherweise läßt sich dieses vormoderne Sinnerzeugungssystemim Joseph-Roman überall finden. Ein Brunnen ist zum Beispiel auf der Ebene des sensus litteralis eine Anlage, wo man Wasser aus der Tiefe heraufziehen kann, außerdem ein Kommunikationsort von erheblicher sozialer Bedeutung. Auf der Ebene des sensus allegoricus ergibt sich gleich ein ganzes Tableau von Deutungsbezügen. «Tief ist der Brunnen der Vergangenheit» – so beginnt der Roman, und führt den Leser wie im Märchen von Frau Holle hinab in den Schlund auf die «Brunnenwiesen des Märchens»[ 44 ]. Der Brunnen ist zugleich eine Mutter, aus ihm wird der Brunnenknabe Joseph entbunden und neu geboren.[ 45 ] Der trockene Brunnen, in den er von den Brüdern geworfen wird, ist der Eingang zur Unterwelt[ 46 ], zum Land der Toten (Ägypten), der Ort der inneren Umkehr und schließlich der Erlösung. Das Gefängnis, in das ihn Potiphar nach der mißglückten Liebesaffäre stecken läßt, wird erneut als ein solcher Brunnen verstanden, aus dem Erlösung kommen wird. Der Brunnen mit dem Abdeckstein darauf wird mit dem Grab Jesu verglichen, das ebenfalls mit einem Stein verschlossen war. Der Stein wird weggewälzt, und Jesus steht auf vom Tode. In den Brunnen fahren (oder in die Grube, wie es an anderen Stellen heißt) und dann wieder auferstehen: Darin besteht, zusammengefaßt, der geistliche Sinn. Er ist übertragbar auf jeden Menschen, der in irgendeine Grube fährt, und verheißt jedem Untergang und jedem schweren Leiden Erlösung.
    Der Blickwinkel des sensus moralis fragt: Was folgt aus dem sensus allegoricus für mein Handeln? Was muß ich tun? Kehre um! lautet die Antwort.Der Brunnen ist der Bußort, aus dem Reue und Umkehr erwachsen. Joseph erkennt in seinem ersten und in seinem zweiten Brunnen, daß er gesündigt hat durch Hochmut. Mit Gottes Hilfe verwandelt er sich durch seine zwei Brunnenstürze aus einem ichverliebten Künstler in einen Helfer der Menschheit. Die Grube hat einen Sinn, wie alles Leiden einen Sinn hat und immer irgendeine Art von Läuterung bewirken kann.
    Im sensus eschatologicus kommt der Tod ins Spiel. Der Brunnen ist «Eingang zur Unterwelt».[ 47 ] Aber auch dieser letzte Brunnensturz birgt Heil. Was im Leben nur andeutungsweise gelingt, daß in jeder Grube ein Auferstehungssame schläft, wird jetzt triumphal und endgültig offenbar: Im Tod ist Auferstehung, und alle wandeln für immer auf den Brunnenwiesen des Märchens.
    Thomas Mann verdankt die ungeheure Geschlossenheit seines Werkes, das Netz der Sinnbezüge, die nichts Unbegreifliches stehenlassen und nichts Isoliertes kennen, dieser dreidimensionalen Hermeneutik – einem Sinnerzeugungsinstrument, das immer noch brauchbar ist und von einer inzwischen selber angestaubten Avantgarde vorschnell zum alten Gerümpel erklärt wurde.
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Joseph und seine Brüder
    Der Roman setzt eigentlich eine schulische Erziehung voraus, in der die Urvätergeschichten im Religionsunterricht durchgenommen wurden. Ersatzweise kann man zur Vorbereitung der Romanlektüreauch das biblische Buch
Genesis
lesen. Man findet die Geschichten Jaakobs (= Israels) und seiner zwölf Söhne dort im 25. bis 50. Kapitel. In der Schule wurden in der Regel purifizierte Versionen verwendet, über die Thomas Mann sich gelegentlich lustig macht, indem er mit psychoanalytisch geschärftem Blick die allgegenwärtige und so gar nicht ehrwürdige Erotik des ersten Buches der Bibel freilegt. Noah zum Beispiel ist nicht nur

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