Thorn - Die letzte Rose
- ihre Vernunft siegte. Zuviel hatte sie ertragen, um noch Barmherzigkeit empfinden zu dürfen.
Ein Meister war ein Meister, blieb ein Meister. Ein Gegenmittel existierte nicht. Die Kleine war längst tot!
„Tatjana Thorn ...“
Thorn zuckte zusammen. Woher kannte sie ihren Namen? Mehr noch, die Stimme aus dem Mund des Mädchens war jäh eine andere geworden. Eine sonore, männliche Stimme. Eine Stimme die ihr bekannt vorkam und deren Klang ihr den Schweiß auf die Stirn trieb.
„So sieht man sich also wieder, alte Freundin ... Oder sollte ich sagen: Erzfeindin?“
Der Kloß, der sich im Hals der Rosenritterin bildete, schnürte ihr die Luft ab; sie konnte nichts erwidern.
Rotauge!
„Hab ich dir schon gesagt, dass deine Eltern köstlich geschmeckt haben?“
Wie war das möglich? Wie konnte Rotauge das Sucker-Mädchen kontrollieren? Aus ihrem Mund sprechen und offenbar auch aus ihren Augen sehen? Es widersprach allem, was Thorn über Vampire gelernt hatte, allem, wogegen sie gelebt hatte. Obwohl sie versuchte, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen und sich tapfer gegen die Lanze stemmte, um ihre Beute nicht entkommen zu lassen, fühlte sie sich wie paralysiert.
„Ich wusste nicht, dass du das drauf hast“, nahm Thorn allen Mut zusammen.
„Ich kann vieles, wovon du keine Ahnung hast.“
Automatisch wandte sie ihren Blick in alle Richtungen, befürchtete, ihre Nemesis hielt sich hier ebenfalls verborgen und wartete auf einen günstigen Moment, in dem sie abgelenkt war, um loszuschlagen und sie zu überrumpeln.
„Keine Sorge“, grinste das Mädchen sie an, „ich bin nicht hier, auch nicht in der Nähe. Ich will dir nur etwas sagen.“
„Du hast genau zehn Sekunden, bis ich dieses stinkende Stück Scheiße in die Hölle fahren lassen.“ Sie versuchte ihrer Stimme einen betont gefühllosen Klang zu geben, obwohl alles in ihr bebte und zitterte. Es kostete sie Mühe, ihre Blase unter Kontrolle zu halten, und am liebsten hätte sie sich übergeben.
„Du hast Francine verletzt. Und was noch schlimmer ist: Du hast mich verletzt. Deine Eltern waren nur ein Snack für mich, aber allmählich wirst du mir lästig. Jetzt ist die Angelegenheit persönlich geworden.“
„Und das bedeutet?“ Trotz schlich sich um ihre Mundwinkel.
Das Mädchen begann hell zu lachen, seine Stimme wurde von den düsteren Kellerwänden reflektiert:
„Die Jagd auf dich ist hiermit eröffnet!“
*
„Waren Sie erfolgreich?“, wollte Pfarrer Wiesner wenige Minuten später wissen, als Thorn mit hängenden Schultern und ohne die geringste Spur von Triumph zu ihm zurückkehrte. Der Kapuze hatte sie entledigt, und die aufsteigende Sonne in ihrem Rücken ließ sie aussehen wie von einem lodernden Halo umgeben.
„Nein“, schüttelte sie lethargisch den Kopf. Ihr war sterbenselend zumute.
„Sie haben keine Vampire gefunden?“
Sie schluckte. „Doch, fünf. Dazu ihren Meister. Aber Rotauge war nicht darunter.“
Scharf sog er die Luft ein. „Die Jagd geht also weiter?“
„Wenn es sein muss bis zum Jüngsten Tag!“
Kapitel 2
ENT-DORNT!
Der Stadtrand von Heitersheim im Markgräfler Land, südlich von Freiburg, bestand vorwiegend aus kleinen, schmucken Häusern. Ein wenig Rasen und einige Blumenbeete davor, eine Garage daneben und genügend Platz dahinter im Garten, wo sich in warmen Sommernächten Tische und Bänke für einen Grillabend aufstellen ließen. Man traf sich hier gern auf ein Schwätzchen oder einen Wein; einer kannte hier vermutlich noch den anderen. Das Übliche eben, wo die Welt vordergründig noch in Ordnung zu sein schien. Schien …
Diese vermeintliche Beschaulichkeit hatte einen gravierenden Fehler, wusste die weißhaarige Frau, als sie aus ihrem Geländewagen stieg. Heute sah es hier aus wie nach einer Schlacht.
Der gesamte Kauseler Weg war von der Polizei weiträumig abgesperrt worden. Mindestens eine Hundertschaft Beamte schien die Gaffer, Reporter und Fotografen in Schach zu halten, die um jeden Preis entweder aus Beruf oder Berufung ihre Neugier befriedigen wollten. Nur ihrem Ausweis hatte es Thorn zu verdanken, überhaupt bis hierher vorgedrungen zu sein.
Der Weg selbst war vollgestopft wie die Tokioter U-Bahn im dichtesten Berufsverkehr: Polizei, Feuerwehr, Kleinbusse der Spurensicherung ... Die obligatorischen Krankenwagen durften selbstredend ebenfalls nicht fehlen, wenngleich die überflüssig waren und es hier niemanden mehr gab, den man ärztlich versorgen
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