Throne of Glass – Die Erwählte
anderen vorbeiritten, erwachte in Celaena eine unbändige Gier. Überall waren Kleider und Tuniken ausgestellt, stolz dargeboten hinter Reihen von funkelnden Juwelen und Arrangements aus breitkrempigen Hüten. Über allem ragte drohend das gläserne Schloss auf, so hoch, dass Celaena den Kopf in den Nacken legen musste, um die Turmspitzen zu sehen. Warum hatten sie eine so lange, umständliche Strecke ausgewählt? Wollten sie hier wirklich eine Parade veranstalten?
Celaena schluckte. Zwischen den Gebäuden tat sich eine Lückeauf, und als sie in die Prachtstraße entlang des Avery einbogen, wurden sie von Segeln begrüßt, die wie ausgebreitete Mottenflügel an den Masten hingen. Am Pier lagen mehrere Schiffe vertäut, ein Gewirr von Tauen und Netzen und Seeleuten, die einander etwas zuriefen, zu beschäftigt, um auf die königliche Prozession zu achten. Beim Geräusch einer Peitsche wirbelte Celaenas Kopf herum.
Aneinandergefesselte Sklaven wankten den Landungssteg eines Frachtschiffs herunter. Eine bunte Mischung aus Angehörigen besiegter Nationen, jeder von ihnen mit dem ausgezehrten, zornigen Gesicht, das sie schon so oft gesehen hatte. Die meisten der Sklaven waren Kriegsgefangene – Rebellen, die die Massaker und die endlosen Reihen von Adarlans Soldaten überlebt hatten. Einige waren wahrscheinlich dabei ertappt oder angeklagt worden, Magie auszuüben, andere hingegen ganz normale Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Als Celaena jetzt darauf achtete, entdeckte sie zahllose in Ketten gelegte Sklaven, die am Hafen arbeiteten, Dinge schleppten und schwitzten, Sonnenschirme hielten und jemandem Wasser einschenkten, die Augen auf den Boden oder gen Himmel gerichtet – nie auf das, was vor ihnen lag.
Am liebsten wäre sie vom Pferd gesprungen und zu ihnen gelaufen oder hätte wenigstens geschrien, dass sie weder zum Hof dieses Prinzen gehörte noch etwas damit zu tun hatte, dass sie alle hierhergebracht worden waren, in Ketten, ausgehungert und misshandelt. Sie hatte geschuftet wie sie, geblutet wie sie, ihre Familien und Freunde – sie war keines dieser Ungeheuer, die alles zerstörten. Sie wollte schreien, dass sie vor knapp zwei Jahren etwas unternommen hatte, als sie fast zweihundert Sklaven aus der Hand des Piratenlord befreit hatte. Doch nicht einmal das hätte ausgereicht.
Plötzlich war die Stadt weit weg, ihr entzogen. Die Leute winkten und verbeugten sich immer noch, jubelten und lachten, warfen Blumenund anderen Unsinn vor die Pferde. Celaena bekam kaum noch Luft.
Früher, als ihr lieb war, tauchte die Schlossmauer auf, Torflügel aus Glas und Schmiedeeisen schwangen auf und ein Dutzend Wachen flankierte den mit Steinen gepflasterten Weg durch den Torbogen. Mit Lanzen und rechteckigen Schilden bewehrt, funkelten ihre Augen dunkel unter den bronzefarbenen Helmen. Alle trugen rote Umhänge. Ihre Rüstungen waren zwar stumpf geworden, aber kunstvoll aus Kupfer und Leder gefertigt.
Hinter dem Torbogen führte eine Straße nach oben, gesäumt von Bäumen aus Gold und Silber. Zwischen den Hecken am Wegrand sprossen gläserne Laternenpfähle empor. Die Geräusche der Stadt blieben zurück, als sie einen weiteren Torbogen passierten, diesmal aus glitzerndem Glas, und dann tauchte das Schloss vor ihnen auf.
Seufzend saß Chaol im großen Haupthof ab. Celaena wurde vom Pferd gezogen und auf wacklige Beine gestellt. Überall schimmerte Glas und eine Hand packte sie an der Schulter. Stallburschen führten leise und rasch ihr Pferd davon.
Als der Kronprinz näher kam, zog Chaol sie an seine Seite und hielt sie fest am Umhang gepackt. »Sechshundert Zimmer, Quartier für Militär und Dienstboten, drei Gärten, ein Wildpark und Ställe auf beiden Seiten«, sagte Dorian, während er sein Zuhause anstarrte. »Wer könnte jemals so viel Platz benötigen?«
Celaena brachte ein schwaches Lächeln zustande, ein bisschen überrumpelt von seinem plötzlichen Charme. »Ich verstehe nicht, wie Ihr nachts schlafen könnt, wenn Euch nur eine Glaswand vor dem Tod bewahrt.« Sie hob den Kopf, senkte den Blick aber schnell wieder. Sie hatte keine Höhenangst, aber bei dem Gedanken, sich so hoch oben zu befinden und nur auf Glas zu stehen, zog sich ihr Magen zusammen.
»Dann seid Ihr wie ich.« Dorian lachte in sich hinein. »Gott seiDank habe ich Euch im Steinschloss einquartiert. Ich möchte auf keinen Fall, dass Ihr Euch unwohl fühlt.«
Es wäre nicht gerade klug, ihn böse anzusehen,
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