Throne of Glass – Die Erwählte
all ihren Mut zusammen und drückte die Klinke hinunter. Die Tür öffnete sich geräuschlos.
Sie hatte einen dunklen, vergessenen Raum erwartet, aber das hier war etwas ganz anderes. Durch ein kleines Loch in der Deckefiel Mondlicht auf das Gesicht einer schönen Marmorstatue, die auf einer Steinplatte lag. Ein Sarkophag. Es war eine Gruft.
In die steinerne Decke über der schlafenden weiblichen Gestalt war eine Baumlandschaft gemeißelt. Neben ihr stand ein zweiter Sarkophag, auf dem eine männliche Gestalt ruhte. Warum war das Gesicht der Frau in Licht getaucht und das des Mannes in Dunkelheit?
Er sah gut aus, mit kurz gestutztem Bart, hoher, glatter Stirn und einer geraden, breiten Nase. In den Händen hielt er ein Schwert aus Stein, der Griff lag auf seiner Brust. Plötzlich verschlug es Celaena den Atem. Auf seinem Kopf saß eine Krone.
Die Frau trug ebenfalls eine Krone. Kein großes, protziges Ding, sondern ein schmales Krönchen mit einem blauen Edelstein in der Mitte – der einzige Schmuck an der ganzen Statue. Ihr langes, gewelltes Haar lag offen um den Kopf herum und fiel so lebensecht über den Sargdeckel – Celaena hätte schwören können, dass es nicht aus Stein war. Sie zitterte, als sie die Hand hob und die glatte, jugendliche Wange berührte, die im Mondlicht erstrahlte.
Sie war so kalt und hart, wie es sich für eine Steinfigur gehörte. »Welche Königin wart Ihr?«, fragte Celaena laut. Ihre Stimme hallte in der Stille der Gruft wider. Vorsichtig strich sie ihr über die Lippen und die Stirn. Dann kniff sie die Augen zusammen. In die Stirn war ein Zeichen graviert, ganz schwach und für das Auge nahezu unsichtbar. Celaena zeichnete es mit dem Finger nach, dann noch einmal. Wahrscheinlich, so überlegte sie, war es im hellen Mondlicht schlechter zu sehen, und schirmte die Stelle mit der Hand ab: eine Raute, die oben und unten in eine senkrechte Linie überging und deren rechte und linke Ecke von zwei seitenverkehrten Spitzen überschnitten wurden …
Es war das Wyrdzeichen, das sie schon einmal gesehen hatte. Sie wich von den Sarkophagen zurück. Plötzlich war ihr kalt. Dies war ein verbotener Ort.
Als sie mit dem Fuß an etwas hängen blieb und stolperte, sah sie nach unten. Überrascht riss sie die Augen auf. Der Boden war mit Sternen bedeckt, die aus dem Stein hervortraten und den Nachthimmel abbildeten. Und die Decke stellte die Erde dar. Warum hatte man oben und unten vertauscht? Celaena betrachtete die Wände. Ihr blieb das Herz stehen.
Sie waren über und über mit Wyrdzeichen bedeckt, in Wirbeln und Windungen, aber auch in geraden Linien und Rechtecken angeordnet. Kleine Wyrdzeichen fügten sich zu größeren zusammen und diese bildeten wiederum noch größere. Celaena kam es so vor, als hätte der ganze Raum eine Bedeutung, die sie unmöglich verstehen konnte.
Sie betrachtete die Steinsärge noch einmal genau. Zu Füßen der Königin entdeckte sie einen Schriftzug. Sie näherte sich der weiblichen Gestalt mit winzigen Schritten. Dort stand in den Stein gemeißelt:
Bescheiden irrt.
Das ergab nicht viel Sinn. Die beiden mussten vor langer Zeit einmal bedeutende Herrscher gewesen sein, aber …
Sie sah sich noch einmal den Kopf der Königin an. Ihr Gesicht hatte etwas Beruhigendes und Vertrautes an sich, das Celaena an den Rosenduft erinnerte. Aber trotzdem war irgendetwas an ihr merkwürdig, seltsam.
Celaena hätte beinahe laut aufgeschrien, als ihr Blick auf die Ohren fiel: Sie waren spitz und gewölbt, genau wie die Ohren der unsterblichen Fae. Es hatte nur eine einzige Fae gegeben, die in die Linie der Havilliards eingeheiratet hatte, und das war tausend Jahre her und sie war noch dazu ein Mischling gewesen. Wenn diese Frau wirklich Fae oder Halb-Fae war, dann …
Celaena wich taumelnd zurück und prallte gegen die Wand. Dicke Staubflocken wirbelten auf.
Dann war dieser Mann Gavin, der erste König von Adarlan. Und sie war Elena, die erste Prinzessin von Terrasen, Brannons Tochter und Gavins Gemahlin und Königin.
Celaenas Herz klopfte so heftig, dass ihr schwindlig wurde. Aber ihre Füße klebten geradezu am Boden. Niemals hätte sie diese Gruft betreten dürfen. Sie war durch ihre Verbrechen so befleckt und unrein, dass sie nicht in diesen heiligen Ort hätte eindringen dürfen. Irgendetwas würde sich an ihre Fersen heften und sie verfolgen und quälen, weil sie die Ruhe der Toten gestört hatte.
Aber warum lag die Gruft so verlassen da? Warum hatte heute
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