Thunderhead - Schlucht des Verderbens
wolle sie damit nach einem weggerollten Ball greifen. Zumindest vermutete Skip, dass es Teresa war, denn er erkannte den Raum, in dem die Leiche lag, als die Küche des alten Ranchhauses seiner Familie. Am rechten oberen Rand des Bildes konnte er ganz klar den Herd seiner Mutter sehen.
Die Tote hingegen war sehr viel schwerer zu identifizieren. An ihrem Gesicht fehlten die Wangen, so dass durch die Löcher die vom Kamerablitz weiß angeleuchteten Zähne blitzten. Selbst auf dem Schwarzweißbild sah Skip, dass die Haut der Leiche seltsame Verfärbungen aufwies. Mehrere Körperteile fehlten: die Finger, eine Brust, der fleischige Teil eines Oberschenkels. Überall am Körper waren dunkle Stellen und tiefe Kratzer zu erkennen, die wohl von den Krallen wilder Tiere herrührten. Wo früher einmal Teresas Hals gewesen war, sah man jetzt bloß noch Knochen und Knorpel und ein paar Fetzen zerrissenen Fleisches. Gestocktes Blut lief wie ein grausiger, eingedickter Fluss zu einem Loch in den zerkratzten Bodenbrettern. Um die Lache herum waren viele kleine Spuren zu sehen, die Skip als Pfotenabdrücke identifizierte.
»Wilde Hunde«, erklärte Martinez, während er Skip den Schnellhefter aus der Hand nahm und ihn langsam wieder zuklappte.
Skips Lippen formten mehrere stumme Worte, bevor er endlich ein »Das ist ja schrecklich« hervorkrächzen konnte.
»Die Hunde haben sich fast einen ganzen Tag lang über ihre Leiche hergemacht.«
»Haben die Tiere sie auch getötet?«, fragte Skip.
»Das haben wir anfangs angenommen, denn ihre Kehle war von einem einzigen Biss zerfetzt worden. Außerdem wies die Leiche Spuren von Zähnen und Krallen auf. Aber der Leichenbeschauer fand bei seiner ersten Untersuchung eindeutige Beweise, dass Ms. Gonzales einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Skip sah Martinez an. »Was für Beweise?«, fragte er.
Martinez erhob sich mit einer lockeren Freundlichkeit, die nicht so recht zu seinen Worten zu passen schien. »Ungewöhnliche Verstümmlungen an Fingern und Zehen, unter anderem«, erwiderte er. »Wenn wir heute Nachmittag das endgültige Autopsieergebnis bekommen, wissen wir mehr. In der Zwischenzeit möchte ich Sie um drei Dinge bitten: Behalten Sie das, was ich Ihnen gesagt habe, für sich; begeben Sie sich nicht in die Nähe Ihrer Ranch, und - was das Allerwichtigste ist- sorgen Sie dafür, dass wir Sie jederzeit erreichen können.«
Ohne ein weiteres Wort geleitete er Skip zur Tür und aus dem Gebäude.
22
B eim Frühstück am nächsten Morgen waren die Expeditionsteilnehmer ungewohnt still. Deutlich konnte Nora den allgemeinen Zweifel spüren, und sie vermutete, dass Blacks Kommentar vom Vorabend seine Wirkung auf die anderen nicht verfehlt hatte.
Nach dem Aufbruch folgten sie einem rauen, unwirtlichen Canon ohne jegliche Vegetation nach Nordwesten. Selbst jetzt, am frühen Vormittag, brütete die Sonne auf den zerbröckelnden Steinen und ließ die Luft in Schlieren flimmern. Die durstigen Pferde waren gereizt und schwer zu bändigen.
Je weiter sie in das Canon-System eindrangen, desto verzweigter wurde es. Es verästelte sich in unzählige Seitentäler und verwandelte sich zunehmend in ein kaum mehr überschaubares Labyrinth. Nach wie vor war es unmöglich, von der Talsohle aus per GPS die Position zu bestimmen. Die Wände der Canons waren hier so steil, dass nicht einmal Sloane für eine Messung nach oben hätte klettern können, ohne sich in erhebliche Gefahr zu begeben. Nora wurde bewusst, dass sie fast länger auf die Karte schaute, als dass sie ritt. Einige Male waren sie gezwungen, einen Canon wieder zurückzureiten, weil er sich als eine Sackgasse entpuppt hatte, und des Öfteren ließ Nora den Rest der Expedition warten, bis sie und Sloane den weiteren Verlauf der Route ausgekundschaftet hatten. Black war ungewöhnlich leise und trug ein leidendes Gesicht zur Schau, dem Angst und Arger anzusehen waren.
Nora kämpfte mit ihren Zweifeln. War ihr Vater wirklich so weit in dieses Canon-Land vorgedrungen? Oder hatte sie irgendwo eine falsche Abzweigung genommen? Ab und zu hatten sie zwar wieder etwas Holzkohle entdeckt, aber die Spuren waren so vereinzelt und unregelmäßig gewesen, dass sie ebenso gut von alten Lagerfeuern hätten herrühren können. Ein neuer Aspekt, über den sie lieber nicht nachdenken wollte, drängte sich ihr immer mehr auf: Was wäre, wenn ihr Vater seinen Brief in einer Art Delirium geschrieben hätte? Es kam ihr zunehmend unmöglich vor, dass er
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