Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
Greifen weich gekaute Baststiefel.
Plötzlich kehrte das Leben in die Harpyie zurück. Sie streckte und reckte sich, ihre Flügel schrumpften. Aus ihrem Hals würgte sie einen faustgroßen Stein hoch, den sie mit einem einzigen Schnabelhieb aufschlug. Das Göttergeschöpf steckte seinen Kopf in die Öffnung. Die Masse wirkte auf einmal weich und formbar. Fasziniert sah Nadja zu, wie aus dem Brei ein Ebenbild ihres Gesichts entstand.
»Woher wusstest du, dass wir unsere Gestalt verändern können?«, fragte die Harpyie. »Nur wenige Geschöpfe kennen unser Geheimnis.«
»Talamh flüsterte es mir zu.«
Podarge griff nach Nadjas Gewand und zog es sich eng über den nunmehr menschenähnlichen Körper. »Wie alt ist er, sagtest du?«
»Einige Monate.«
»Bemerkenswert. Ich vermute, Lyonesse übt eine besondere Wirkung auf ihn aus und verstärkt seine Kräfte. Weißt du von der Ley-Linie unter unseren Beinen?«
»Ja.«
»Achte darauf, dass sich Talamh nicht an der Energie überfrisst.« Ein letztes Mal fiel Podarge in ihr Gekrächze zurück. Sie schüttelte den Kopf und zog ihr – Nadjas – Gesicht in tausend Falten. »Du siehst nicht nur hässlich aus, du fühlst dich auch hässlich an, Sterbliche. Wie lange soll ich deine Rolle ausfüllen?«
»Beim ersten morgendlichen Sonnenstrahl bin ich zurück. Wir treffen uns wieder hier.«
Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, öffnete die Harpyie den Türverschlag. Nadja fand gerade noch Zeit, sich in einen toten Winkel zurückzuziehen, in dem sie die Wärterin nicht sah.
»Hast du’s überstanden?«, fragte die Wachelfe.
»Ich glaube schon. Ich fühle mich wie erschlagen und möchte nur noch schlafen.«
Unglaublich. Podarge redete nicht nur wie Nadja; sie fand sogar dieselbe Sprachmelodie. Sie verließ den Abtritterker, ließ die Tür angelehnt und trippelte zu ihren Schlafgemächern.
Wackle ich wirklich derart heftig mit meinem Popo?
, fragte sich Nadja selbstkritisch, bevor sie die leise quietschende Tür ein Stückchen aufschob und sich durch die Lücke quetschte. Wenige Schritt links von ihr begann die Treppe. Die beiden Wächterinnen hatten wieder Position neben ihrer Kemenate bezogen. Unbemerkt huschte Nadja die Stufen hinab. Mit jedem Schritt fühlte sie die Erleichterung wachsen. Sie hatte die erste Hürde genommen.
6 Begegnungen, Teil 1
Jason Paubert packte die junge Elchkuh an den Vorderläufen. »Eins – zwei – drei!«, zählte er und schleuderte das fast dreihundert Kilogramm schwere Vieh gemeinsam mit Flint, Carl und Owen auf die blutverschmierte Pritsche des Pick-ups. Der Wagen federte mit der Hinterachse so stark, dass die rostigen Kotflügel die Räder streiften.
Jason sprach ein kurzes Dankgebet, bevor er die Ladeluke verschloss und einen prüfenden Blick nach oben warf, in den von Baumkronen fast völlig verdeckten Himmel. Weitere Beute wartete auf ihn, das roch und spürte er genau. Aber würde die Zeit reichen, bevor es dunkelte?
Er beschloss, sein Glück zu testen. Mit einem Zeichen deutete er seinen Helfern, beim Wagen auf ihn zu warten. Die Jagd war einzig und allein seine Angelegenheit, immer schon gewesen. Er schnürte die Wanderschuhe fester, zog die geschmeidigen, an den Fingerkuppen abgeschnittenen Handschuhe über, schnappte sich eine Schachtel Munition, schulterte das Jagdgewehr und machte sich auf den Weg.
Es war ruhig im Wald – aber nicht für ihn. Er hörte Vetter Coyote, der nach einem Weibchen suchte, und er hörte Gevatter Stacheltier, der mit lautem Scharren seinen Bau für den geplanten Nachwuchs verbreiterte. Die Schwestern Fink und Rotkehlchen, die weit oben nisteten, unterbrachen für einen Augenblick ihre Unterhaltung, als sie seine Tritte hörten. Sobald sie bemerkt hatten, dass
er
es war, fuhren sie fort.
Jason Paubert war gut, aber er war nicht gut genug. Er störte das Ewige Gleichgewicht, und er würde dafür bezahlen, irgendwann. Jedoch nicht an diesem Tag.
Nach einer halbstündigen Wanderung über Stock und Stein fand er die Herde. Die Elchkühe, die sich nun, zu Beginn des Winters, zusammengefunden hatten, waren noch nicht weitergezogen. Nach wie vor drängten und rieben sich die Tiere eng aneinander, nahe dem kleinen und fast schon zugefrorenen Wassertümpel, den sie seit Generationen zu dieser Zeit des Jahres aufsuchten. Jason schlich sich gegen den Wind an. Die großen Tiere, deren natürliche Feinde sich auf Pumas und Grizzlys beschränkten, waren weitaus leichter zu täuschen als die
Weitere Kostenlose Bücher