Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
sich nicht irritieren und klopfte weiter. Immer wieder, immer fester, bis die Schale in winzige Teile zerbrach. Der Gesprächspartner, den sie damit herbeizulocken hoffte, reagierte äußerst empfindlich auf diese Art von Geräuschen.
»Am Anfang war das Chaos«, begann Nadja den Singsang, zu dem ihr Sohn ihr geraten hatte. »Chaos blickte auf Gaia, die Erde, hinab. Erebos und Nyx zeugten Aither, Aither und Gaia zeugten Pontos, Pontos und Gaia zeugten Thaumas, Thaumas und Elektra erschufen die Harpyien, und aus der Harpyie des Westwindes, Podarge, ging Kyon hervor, die wiederum gemeinsam mit Iachlos Unusteira hervorbrachte. Unusteira …«
»Was willst du von mir?« Ein hässlicher Frauenkopf, dessen Gesicht von einer triefenden Hakennase beherrscht wurde, schob sich aus einer der Abtrittöffnungen hervor. Die Harpyie hielt einen gründlich abgenagten Tierknochen im narbigen Maul.
»Ich bin hier, um etwas einzufordern.« Nadja leckte über ihre Lippen und wählte ihre weiteren Worte mit Bedacht. »Du und die Deinen, ihr habt vor vielen Jahren Asyl in Lyonesse gewährt bekommen. Ihr Göttinnen wurdet in allen Ehren aufgenommen, während ihr auf der Erdenwelt Not leiden musstet. Nun ist es an der Zeit, dass ihr eure Schulden begleicht …«
»Schon gut, schon gut!«, wurde sie von der zerrupft wirkenden Harpyie namens Podarge unterbrochen, deren Enkeltochter am Westturm Junge gelegt hatte. Sie schob sich ächzend und laut schnaufend durch die Öffnung. »Was erwartest du von mir?«
»Ein Schauspiel, auf das sich Harpyien gut verstehen. Ich möchte, dass du für eine Nacht meinen Platz einnimmst.«
Der tief gezogene Schnabel der Harpyie verdeckte einen dichten Bartflaum. Aus ihren Mundwinkeln hingen Reste von Würmern und Schnecken. »Du bist außerordentlich hässlich, Menschenfrau«, krächzte Podarge, »und du verlangst Unmögliches. Selbst unter den günstigsten Voraussetzungen wäre ich nicht in der Lage, dein widerlich kahlglattes Gesicht zu imitieren.«
»Ich bin mir sicher, dass du es schaffst«, beharrte Nadja. »Außerdem möchte ich dir und deinesgleichen ein Angebot meines Sohnes Talamh unterbreiten.«
»Sprich, Abstößliche.«
»Ihr habt sicherlich von meinem Sohn gehört. Schon jetzt gilt er als derjenige, der den Streit zwischen Elfen und Menschen beenden könnte.« Nadja setzte eine kurze Kunstpause, um die Neugierde der Harpyie weiter zu steigern. »Seine Zeit wird zweifellos bald kommen, und wenn ihr uns jetzt helft, so verspricht er euch, für alle Zeiten die Harpyien in seinem Wappenzeichen zu tragen.«
»Sprichst du für dich und deine Brut oder für Lyonesse?«, fragte Podarge misstrauisch und so laut krächzend, dass Nadja besorgt in Richtung der Tür blickte, die zum Gang zwischen Abtritterker und ihren Räumlichkeiten führte.
»Ich möchte, dass es in Lyonesse wieder so wird, wie es einmal war«, antwortete sie möglichst unverbindlich. In beschwörendem Tonfall fuhr sie fort: »Ich bin auf dich angewiesen. Bitte, hilf mir!«
Podarge hackte mit einem Schnabelhieb in ihr Rückengefieder und zog einen fingerdicken Käfer hervor, den sie lustlos hinabwürgte. »Würdet ihr tatsächlich eine Harpyie in euer Wappenzeichen übernehmen?«
»Ich schwöre es.«
»Pah! Was ist der Eid einer Halbmenschin schon wert? Und dennoch …« Podarge legte ihr Gesicht in Falten. »Die Nachrichten reisen rasch heutzutage. Man sagt sich Wunderdinge von deinem Küken. Vielleicht ist es in der Lage, Lyonesse zu retten.«
Trotz ihrer Nervosität blieb Nadja ruhig und wartete auf eine Antwort. Talamh hatte sie auf die Zögerlichkeit der Harpyien vorbereitet.
»Schön, schön. Ich tue dir den Gefallen. Solltest du dein Versprechen allerdings brechen, wirst du auf keiner der Welten mehr sicher vor mir und meinen Schwestern sein.«
Es pochte an der Tür des Abtrittraums. »Alles in Ordnung?«, erklang die dröhnende Stimme der Wachelfe.
»Macht euch keine Sorgen!«, antwortete Podarge mit Nadjas Stimme. Sie klang täuschend ähnlich. »Ich bin gleich so weit.«
Nadja zog Umhang und Nachtkleid von ihrem Körper und legte beide Kleidungsstücke vor der Harpyie hin, die unvermittelt in eine tiefe gedankliche Versenkung geglitten war. Keine Feder bewegte sich mehr, selbst die Atmung kam flach, war kaum noch zu hören.
Sie selbst schlüpfte in die Freizeitkleidung, die sie im Garderobenschrank ihres Zimmers gefunden hatte: eine weit geschnittene Lederhose, eine seidene Bluse mit tiefem Ausschnitt und von
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