Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
unterkühlen.«
Erschrocken fuhr sie herum und ging in eine abwehrbereite Position. Der Getreue stand vor ihr. Aufrecht und erhaben wie immer, verbreitete er eine Aura der Unnahbarkeit.
»Was willst du von mir?«, herrschte sie ihn an. Sie fürchtete sich vor dem dunklen Gesellen, wie immer, doch sie wollte sich diese Furcht nicht anmerken lassen. Und ihre Frage war mehr als berechtigt. Am Ende des Kampfes in Asgard hatte der Getreue Rian und David durch ein Portal gestoßen und vor dem Untergang gerettet. Nach der Schlacht war er verschollen gewesen, und alle hatten angenommen, dass er umgekommen war. Doch Rian wurde eines Besseren belehrt, als er plötzlich bei dem Kampf gegen den Seedämon in der Andamanensee auftauchte und Rian abermals rettete – indem er sie nach Tara entführte. Obwohl das erst wenige Tage her war, erschien ihr die Gefangenschaft schon jahrelang.
»Du ängstigst dich vor dem, was kommt«, sagte der Getreue, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Du sorgst dich um deine Verwandten – und um dich selbst. Du verstehst nicht, was mit dir vorgeht. Das ist gut, das ist sogar sehr gut …«
Mit einem Mal fühlte sie sich nackt. Beinahe hätte sie ihre Hände vor die Brüste und die Scham gelegt. Es war so unfair! Niemand – mit Ausnahme Bandorchus vielleicht – wusste, wie der Getreue aussah. Doch er besaß offenbar die Fähigkeit, sein Gegenüber von oben bis unten zu durchleuchten und das geringste Anzeichen von Schwäche auszumachen, um aus den gewonnenen Erkenntnissen Vorteile zu ziehen.
»Richte deiner Herrin aus, dass ich weiterhin nicht bereit bin, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sollte sie darauf spekulieren, dass ich weich werde und nachgebe, irrt sie sich.«
»Die Ley-Linie erfüllt Bandorchu mit Kraft und Zuversicht. Sie wird von Tag zu Tag stärker. Bei dir tritt jedoch der gegenteilige Effekt ein, nicht wahr?«
Lachte der Getreue, oder wie sollte Rian dieses trockene, schabende Geräusch, das aus der Kapuzenöffnung drang, deuten?
»Dein Optimismus schwindet«, fuhr er fort. »Aus der einstmals so lebensfrohen, lebendigen und neugierigen Elfe wird ein verbittertes Persönchen, das zusehends
vergeht
.«
»Lass dein dummes Gerede! Geh doch zurück, Schoßhündchen, und leck deiner Herrin die Füße.«
»Du bist von deinen Wurzeln abgeschnitten, weil Tara isoliert steht. Dir fehlt die Verbindung zu deinem armen Brüderlein, zum Baum, zum Schloss. Was die Königin kräftigt, bewirkt bei dir das Gegenteil.« Der Getreue wuchs vor ihr. Mit jedem Wort gewann er an Größe und an Substanz. Bis er sie so weit überragte, dass er das Sonnenlicht vollends auslöschte. »Kleine Elfe, du hast Angst; aber nicht vor mir, sondern vor dir selbst. Es wird Zeit, dass du dein Ziel findest – und dabei
deinen eigenen
Pfad beschreitest.«
Damit verflüchtigte er sich. Er verschwand aus Rians Wahrnehmung und wurde zu einem Bild zerrissener Nebelschwaden, die letztendlich vaporisierten und nichts als einen unbestimmten Geruch zurückließen.
Rian war, als erwache sie aus einem Traum. Rings um sie herrschte geschäftiges Treiben. Niemand hatte Kenntnis von der kleinen Episode auf der Brüstung nahe dem neuen Turm genommen; warum auch? Infolge des Truppenaufmarschs krachten magische Kräfte Hunderter Völker und Einzelwesen aufeinander. Energien aus mehreren Welten entluden sich und schufen ein uneinheitliches Bild, in dem kaum noch zwischen Traum und Wirklichkeit unterschieden werden konnte.
War der Getreue tatsächlich bei ihr gewesen? Hatte er diese seltsamen Worte gesprochen, die mehr nach Rat denn nach Tadel klangen? War Bandorchu die Herrin von Tara, bestimmte sie die Geschehnisse? Oder hatte sich der Getreue zum eigentlichen Drahtzieher der Geschehnisse ausgewachsen, die auf eine gewaltige Eruption abzielten und die Bewohner des Menschen- und des Elfenreiches in den Abgrund zu ziehen drohten? Und wenn dem so sein sollte, welche Rolle hatte er ihr, Rian, dabei zugedacht? Etwa die einer Marionette, die er in Position brachte, um sie gegen andere Marionetten auszuspielen?
Die Elfe glaubte, höhnisches Gelächter zu hören, das mit dem Wind verwehte. Sie zog den Mantel höher und ging zurück zum Turmzimmer. Der Anblick der kalten Wintersonne ließ sie bis ins Mark frösteln.
Was hatte der Getreue gesagt? »Es wird Zeit, dass du dein Ziel findest …« Er war nicht der Erste, der von Rians
eigenem
Pfad sprach.
13 Im Baumschloss
Ihr habt meine Tochter also verloren.« Es war keine Frage, sondern
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