Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
Staub bedeckt – dennoch strahlte sie etwas aus, dessen Wirkung er sich kaum entziehen konnte.
»Wir haben dir geholfen?«, meldeten sich die Geister der Schwesternschaft zu Wort. »Lass uns jetzt frei? Bitte?«
»Nicht bevor ich überprüft habe, ob sich tatsächlich die Relikte Thanmórs darin befinden.«
»Du spürst es doch selbst?« Die Stimmen wogten über ihn hinweg wie die ersten Wellen einer nahenden Sturmflut. Sie waren voll Verzweiflung und Sehnsucht. »Du weißt, was du in Händen hältst?«
»Habt Geduld«, murmelte Alebin. Er kümmerte sich nicht weiter um die Geister und konzentrierte sich vollends auf die Kassette. Die Bestie würde sich schon um die Mitglieder der Schwesternschaft kümmern, sollten sie wider Erwarten zur Gefahr für ihn werden.
Sorgfältig tastete er die Holzarbeiten des armlangen Kastens ab. Da war kein Schloss, kein Schnapper, nicht der geringste Hinweis auf einen Öffnungsmechanismus. Alebin hatte auch nicht erwartet, dass es leicht werden würde. Die Ruhenden Streitkräfte des Thanmór hüteten ihre Geheimnisse gewiss mit aller gebotenen Vorsicht. Immerhin waren selbst ihre Existenz und der Grund für ihre Verbannung ins Schattenland über Jahrtausende hinweg geheim geblieben.
Alebin schnalzte mit der Zunge. Augenblicklich erhob sich die Bestie und kam mit ihrem eleganten Raubtiergang auf ihn zu. Wache, schillernde Augen blickten ihn an.
»Hilf mir!«, forderte der Elf.
Das Tier, das einmal etwas anderes gewesen war, zwinkerte. In seinen Iriden spiegelten sich seltsame Bilder. Explosionsblüten, von Naturgewalten zerrissene Leiber, magische Lichtblitze. Alebin sah zu, begeistert und fasziniert zugleich. Der Geist der Torfmuhme mochte endgültig aus diesem wundersamen Körper geflohen sein, doch ihre besonderen Kräfte waren geblieben. Die Bestie konnte sie instinktiv anwenden, konnte damit Alebins eigene Anstrengungen verstärken und gemeinsam mit ihm nach der Lösung dieses Rätsels suchen.
»Lass uns frei?«, quengelten die im Stein gefangenen Geister.
Alebin beachtete sie nicht. All seine Konzentration galt der Schatulle in seinen Händen und den Augen der Bestie, die wie Spiegel wirkten und das zeigten, was ihm verborgen blieb. Sie brachten Dinge zutage, die man normalerweise nur aus den Augenwinkeln erahnte; die man fühlte, aber niemals begriff.
Da war das Schloss! Es befand sich an der
Mittelseite
des Kästchens. In einem Bereich, den Alebin weder sehen noch ertasten konnte.
Er starrte in die Augen der Bestie. Langsam und sorgfältig führte er seine Rechte zu jenem Platz, an dem sich das Schloss zeigte. Der einfache Bartschlüssel hing nebenbei.
Nur nicht nachdenken, einfach handeln!
, sagte er sich und tastete so lange umher, bis er den Widerstand kühlen Metalls zwischen seinen Fingern spürte.
Der Triumph hätte beinahe all seine Vorsicht hinweggespült. Alebin war kurz davor, die Schatulle direkt anzusehen und damit diesen ganz besonderen Zauber zu brechen. Im letzten Moment besann er sich und konzentrierte sich auf seine schwierige Aufgabe. In der
spiegelaugenverkehrten
Betrachtung werkelte er mit dem Schlüssel so lange umher, bis er ins dazu passende Loch gefunden hatte. Seine Hände waren längst feucht geworden, ein Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Womöglich war dies sein einziger Versuch. Der Kasten mochte sich selbst zerstören, wenn er einen Fehler beging.
Langsam drehte er den Schlüssel um. Ein leises Klicken ertönte, gefolgt von einem ärgerlichen Rumpeln. Mit einem Mal fühlte der Elf Hitze, die von der Vorderseite der Schatulle ausging. Sie zwang ihn, den versteckten, getarnten Schlüssel loszulassen und den Kasten so rasch wie möglich vor sich abzustellen. In den Augen der Bestie beobachtete er, wie
etwas
aus dem Holz kam, ihm eine grässliche Grimasse zeigte und sich unvermittelt in Luft auflöste.
Ein weiterer Wächter hatte seinen Widerstand aufgegeben.
Es war geschafft. Endlich konnte Alebin einen unmittelbaren Blick auf das Behältnis werfen. Er deutete der Bestie, sich zu setzen, und nahm die Schatulle in Augenschein.
Sie wirkte unverändert. Nichts wies darauf hin, dass sie nunmehr offen war. Aber er fühlte es, hatte
Sicherheit
.
Trotzdem zögerte der Elf. Er war nicht so weit gekommen, um nun alle Vorsicht fahren zu lassen. Im Inneren mochten weitere Gefahren lauern. Alebin musste zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen treffen, wollte er nicht riskieren, über dem Inhalt des Kästchens den Verstand zu verlieren.
Weitere Kostenlose Bücher