Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
die Heckklappe.
Sie klemmte, aber das spielte keine Rolle; mit dem Dach war auch die Seitentür verschwunden, und ich schaffte in Windeseile zweiundzwanzig Verwundete und Sterbende in den für acht Personen bestimmten Transporter. Obendrein klingelte in einem fort ein Telefon. Mein Bruder kümmerte sich ebenfalls, ohne Helm und mit blutüberströmtem Gesicht, um die Verletzten. Er bat mich, ihn nachzuholen. Als ich davonfuhr, spickte ein Scharfschütze die Karosse mit Kugeln, die als jaulende Querschläger abprallten; die russische Infanterie rückte an. Das Telefon klingelte immer noch. Ich griff im Dunkeln nach dem Hörer, ließ ihn aus Versehen fallen und tastete fluchend den Fußboden danach ab. Es war Bowden.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles bestens«, antwortete ich und versuchte, meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen. Ich sah auf meinen Wecker. Es war drei Uhr morgens. Ich stöhnte.
»Es ist schon wieder ein Manuskript gestohlen worden. Die Nachricht kam gerade über Funk. Dieselbe Vorgehensweise wie bei
Martin Chuzzlewit
. Die Täter sind einfach reinmarschiert und haben es mitgenommen. Zwei Wachleute sind tot. Der eine wurde mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen.«
»Jane Eyre.«
»Woher zum Kuckuck wissen Sie das?«
»Von Rochester.«
»Von wem …?«
»Vergessen Sie’s. Haworth House?«
»Vor einer Stunde.«
»Ich hole Sie in zwanzig Minuten ab.«
Eine Stunde später brausten wir nach Norden Richtung Rugby. Die Nacht war klar und kühl, und die Straßen waren so gut wie leer.
Obwohl ich das Verdeck zugeklappt hatte und die Heizung auf vollen Touren lief, zog es im Wageninnern, weil sich immer wieder heftige Windböen unter die Motorhaube verirrten. Mich schauderte bei dem Gedanken, wie sich der Wagen wohl im Winter fuhr.
»Ich werde das hoffentlich nicht bereuen«, murmelte Bowden.
»Hicks wird nicht sonderlich erfreut sein, wenn er von unserem Ausflug erfährt.«
»Wer sagt: ›Ich werde das hoffentlich nicht bereuen‹, tut das in der Regel schon. Also, wenn ich Sie rauslassen soll, brauchen Sie es nur zu sagen. Zum Teufel mit Hicks. Zum Teufel mit Goliath und Jack Schitt. Manche Dinge sind einfach wichtiger als die Vorschriften. Regierungen und Moden kommen und gehen, aber
Jane Eyre
ist für die Ewigkeit. Ich würde buchstäblich alles dafür tun, um den Roman zu retten.«
Bowden schwieg. Ich hatte das Gefühl, ihm machte sein Job richtig Spaß, seit wir zusammenarbeiteten. Ich schaltete einen Gang herunter, überholte einen Lastwagen und sprintete los.
»Woher wußten Sie, daß es um
Jane Eyre
ging, als ich angerufen habe?«
Ich dachte einen Moment nach. Wem sollte ich davon erzählen, wenn nicht Bowden? Ich zog Rochesters Taschentuch hervor. »Sehen Sie das Monogramm?«
»EFR?«
»Es gehört Edward Fairfax Rochester.«
Bowden sah mich zweifelnd an. »Langsam, Thursday. Ich bin zwar kein Brontë-Experte, aber so blöd bin ich nicht, daß ich nicht wüßte, daß diese Figuren nicht
echt
sind.«
»Ob echt oder nicht, ich bin ihm mehrmals begegnet. Ich habe auch seine Jacke.«
»Moment mal – das mit Quaverleys Extraktion leuchtet mir ein, aber was wollen Sie damit andeuten? Daß Charaktere nach Lust und Laune aus ihren Romanen heraushüpfen können?«
»Zugegeben, das klingt alles sehr merkwürdig, und ich habe auch keine Erklärung dafür. Aber die Grenze zwischen Rochester und mir ist irgendwie durchlässig. Und nicht nur ist
er
aus dem Roman herausgekommen; sondern einmal, als kleines Mädchen, habe
ich
sogar das Buch betreten. Ich kam genau in dem Moment an, als sich die beiden das erste Mal begegnen. Wissen Sie noch?«
Bowden blickte verlegen aus dem Seitenfenster.
»Ziemlich billig für bleifrei«, sagte er, als wir an einer Tankstelle vorbeikamen.
Ich erriet den Grund. »Sie haben
Jane Eyre
nie gelesen, stimmt’s?«
»Nein …«, stammelte er. »Aber, äh …«
Ich lachte. »Na, na, ein LitAg, der
Jane Eyre
nicht kennt?«
»Ja, ja, geschenkt. Dafür habe ich
Sturmhöhe
und
Villette
gelesen. Ich wollte mir das Buch zwar vornehmen, aber wie so vieles habe ich es schlicht vergessen.«
»Dann will ich Ihnen mal ein bißchen auf die Sprünge helfen.«
»Ich bitte darum«, brummte Bowden betreten.
Im Laufe der folgenden Stunde erzählte ich ihm die Geschichte von
Jane Eyre
, beginnend mit dem jungen Waisenmädchen Jane, ihrer Kindheit im Hause von Mrs. Reed und deren Cousinen und ihrer Zeit in Lowood, einer schrecklichen Armenschule, die
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