Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
von einem grausamen und scheinheiligen Prediger geleitet wird, über die Typhusepidemie und den Tod ihrer Freundin Helen Burns bis zu ihrem Aufstieg zur Musterschülerin und schließlich Lehrerin unter der Leitung von Miss Temple.
»Jane verläßt Lowood und zieht nach Thornfield, wo sie nur noch einen Schützling hat, nämlich Rochesters Mündel Adele.«
»Was ist, bitte, ein Mündel?« fragte Bowden.
»Nun ja«, antwortete ich. »Sagen wir, eine dezente Umschreibung dafür, daß das Mädchen einer früheren Liaison entstammt. Heutzutage würde Adele auf der Titelseite des
Toad
als ›Kind der Liebe‹ bloßgestellt.«
»Aber Rochester kommt seinen väterlichen Pflichten doch offenbar nach?«
»Und ob. Jedenfalls gefällt es Jane in Thornfield ausgesprochen gut, trotz der sonderbaren Atmosphäre – Jane hat den Eindruck, daß dort etwas vor sich geht, worüber niemand spricht. Rochester kehrt von einer längeren Reise heim und erweist sich als mürrisch und herrschsüchtig; dennoch beeindruckt ihn Janes Seelenstärke, als sie ihn bei einem mysteriösen Zimmerbrand vor dem Verbrennungstod rettet. Jane verliebt sich in Rochester, muß jedoch mit ansehen, wie er Blanche Ingram, einem richtigen Luder, den Hof macht. Jane verläßt Thornfield, um Mrs. Reed zu pflegen, die im Sterben liegt, und bei ihrer Rückkehr hält Rochester um ihre Hand an; denn in ihrer Abwesenheit hat er erkannt, daß Janes Charaktereigenschaften Miss Ingrams Reize bei weitem übertreffen, trotz des Klassenunterschieds.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind …«
»Immer mit der Ruhe. Die Hochzeit platzt nämlich. Das Brautpaar steht schon in der Kirche, da kommt ein Anwalt und behauptet, Rochester sei schon verheiratet, was sich als zutreffend herausstellt. Die wahnsinnige Bertha Rochester bewohnt sogar ein Zimmer im Obergeschoß von Thornfield Hall, wo sie von der schrulligen Grace Poole gepflegt wird. Der Brand in Rochesters Zimmer geht auf ihr Konto. Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist Jane zutiefst schockiert. Rochester versucht sein Benehmen dadurch wiedergutzumachen, daß er ihr immer wieder seine Liebe beteuert. Er bittet sie, als seine Mätresse mit ihm fortzugehen, aber sie weigert sich. Obwohl sie ihn noch immer liebt, läuft sie davon und findet ein neues Zuhause bei den Rivers, zwei Schwestern und deren Bruder, die sich als ihre Verwandten entpuppen.«
»Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?«
»Schhh. Janes Onkel, der auch der Onkel der Geschwister ist, hat vor kurzem das Zeitliche gesegnet und ihr sein gesamtes Vermögen hinterlassen. Sie beteiligt die drei an ihrem Erbe und will ein selbständiges Leben führen. Der Bruder, St. John Rivers, beschließt, als Missionar nach Indien zu gehen, und möchte, daß Jane mitkommt und der Kirche dient. Jane ist zwar durchaus bereit, ihm zu dienen, will ihn aber nicht heiraten. Sie betrachtet die Ehe als einen Bund der Liebe und der gegenseitigen Achtung, nicht als Pflichtübung. Nach langem Hin und Her willigt sie schließlich ein, mit ihm als seine ›rechte Hand‹ nach Indien zu gehen. Und damit endet der Roman.«
»Das ist alles?« fragte Bowden erstaunt.
»Wie meinen Sie das?«
»Also, ich finde den Schluß enttäuschend. Wir versuchen, die Kunst so vollkommen wie irgend möglich zu machen, eben weil uns das im wirklichen Leben nie gelingt, und Charlotte Brontë beendet ihren Roman auf eine Art und Weise, die wahrscheinlich ihr eigenes unglückliches Liebesleben reflektiert. Ich an Charlottes Stelle hätte dafür gesorgt, daß Jane und Rochester doch noch irgendwie zusammenfinden.«
»Fragen Sie mich nicht«, sagte ich. »Ich habe das Buch nicht geschrieben.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Sie haben natürlich recht«, murmelte ich dann. »Der Schluß ist beschissen. Erst läuft alles wie am Schnürchen, und dann läßt sie den Leser im Regen stehen. Selbst Brontë-Puristen sind sich einig, daß es wesentlich besser gewesen wäre, wenn sie am Ende geheiratet hätten.«
»Und wie, solange Bertha noch am Leben ist?«
»Keine Ahnung; sie könnte zum Beispiel sterben. Hmm, gar nicht so einfach.«
»Woher kennen Sie
Jane Eyre
eigentlich so gut?« fragte Bowden.
»Es war immer schon eins meiner Lieblingsbücher. Ich hatte ein Exemplar davon in meiner Jackentasche, als ich in London angeschossen wurde. Die Kugel blieb darin stecken. Kurz darauf erschien Rochester und klemmte meine Armverletzung ab, bis die Sanitäter kamen. Er und das Buch haben mir das Leben
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