Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
Next«, antwortete Mary beschwichtigend, »einem von Mr. Rochesters anderen Gütern. Sie werden schwach sein; ich bringe Ihnen etwas Brühe.«
Ich ergriff ihren Arm. »Und Mr. Rochester?«
Sie hielt inne, tätschelte mir lächelnd die Hand und sagte, sie werde jetzt die Brühe holen. Ich sank in die Kissen zurück und dachte an die Nacht, in der Thornfield gebrannt hatte und Acheron starb. Die arme Bertha Rochester. Ob ihr bewußt gewesen war, daß sie uns durch ihre zufällige Wahl der Waffen das Leben gerettet hatte? Vielleicht hatte sie in ihrer geistigen Umnachtung eine besondere Antenne für den Schwachpunkt des Scheusals gehabt? Ich würde es nie erfahren, war ihr aber dennoch dankbar.
Nach einer Woche konnte ich wieder aufstehen und gehen, obwohl ich nach wie vor unter starken Schwindelgefühlen litt. Man erzählte mir, daß ich beim Einsturz des Dienstbotenaufgangs einen Schlag auf den Kopf erhalten und das Bewußtsein verloren hatte. Rochester hatte mich in einen Vorhang gewickelt und aus dem brennenden Haus geschleppt. Dabei war er von einem herabstürzenden Balken getroffen worden und hatte das Augenlicht verloren; die Hand, die Acherons Kugel zerschmettert hatte, war am Morgen nach dem Feuer amputiert worden. Wir trafen uns im dunklen Speisezimmer.
»Haben Sie große Schmerzen, Sir?« fragte ich beim Anblick seiner erbarmungswürdigen Gestalt; seine Augen waren verbunden.
»Zum Glück nicht«, log er, obwohl er bei der leisesten Bewegung das Gesicht verzog.
»Ich danke Ihnen; Sie haben mir ein zweites Mal das Leben gerettet.«
Er lächelte matt. »Sie haben mir meine Jane zurückgebracht. Für jene Monate des Glücks würde ich diese Wunden mit Freuden doppelt und dreifach erleiden. Aber sprechen wir nicht über meinen jämmerlichen Zustand. Geht es Ihnen gut?«
»Dank Ihnen.«
»Ja, ja, aber wie wollen Sie in Ihre Welt zurückkehren? Jane und dieser feigherzige Hanswurst Rivers sind vermutlich längst in Indien; und mit ihnen die Handlung. Wie könnten Ihre Freunde Sie da retten?«
»Mir wird schon was einfallen«, sagte ich und tätschelte ihm den Arm. »Man kann nie wissen, was die Zukunft bringt.«
Für meine Kollegen von SpecOps war der nächste Tag angebrochen.
Die Monate, die ich in dem berühmten Buch zugebracht hatte, waren für sie so rasch vergangen wie die Zeit, die man braucht, um davon zu lesen. Angesichts der kriminellen Umtriebe vor seiner Haustür hatte das walisische Politbüro Victor, Finisterre und einem Mitglied der Brontë-Gesellschaft freies Geleit ins Hotel Penderyn zugesichert, wo die drei jetzt mit Bowden, Mycroft und einem zunehmend nervöser werdenden Jack Schitt zusammensaßen. Der Vertreter der Brontë-
Gesellschaft las den Text, der auf den vergilbten Seiten erschien, laut mit. Von ein paar kleinen Änderungen abgesehen, nahm der Roman den üblichen Verlauf; seit zwei Stunden folgte der Wortlaut exakt dem Original: Jane erhielt einen Heiratsantrag von St. John Rivers, der sie als seine rechtmäßige Ehefrau nach Indien mitnehmen wollte, und sie bat um Bedenkzeit.
Mycroft trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und ließ den Blick über die zuckenden Nadeln und Skalen an seiner Maschine schweifen; er wartete auf das Stichwort zum Öffnen des Portals. Das Problem war nur, daß das Buch langsam, aber sicher seinem Ende zuging.
Da geschah das Unglaubliche. Der Experte der Brontë-Gesellschaft, ein gewöhnlich überaus beherrschter kleiner Mann namens Plink, war plötzlich wie elektrisiert. »Moment mal; das ist neu! Das gab es früher nicht!«
»Was?« rief Victor und blätterte rasch in seinem Exemplar. Und tatsächlich, Mr. Plink hatte recht. Die Worte, die eines nach dem anderen auf dem Papier erschienen, gaben der Handlung eine völlig neue Wendung. Nachdem Jane der Heirat mit St. John Rivers zugestimmt hatte, so dies Gottes Wille sei, hörte sie eine Stimme – eine
neue
Stimme, Rochesters Stimme –, die aus der Ferne nach ihr rief. Wo kam sie her, diese Stimme? Diese Frage stellten sich weltweit an die achtzig Millionen Leser, während sie die neue Geschichte, die sich vor ihren Augen schrieb, gebannt verfolgten.
»Was soll das heißen?« fragte Victor.
»Ich weiß nicht«, antwortete Plink. »Das ist zwar Charlotte Brontë pur, stand vorher aber
definitiv
nicht im Manuskript!«
»Thursday«, murmelte Victor. »Das muß sie sein. Mycroft, halten Sie sich bereit!«
Begeistert lasen sie, wie Jane sich gegen Indien und St. John Rivers entschied und
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