Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
Monogramm: EFR.
Außerdem enthielt der Karton eine Jacke, eine Art Gehrock, wie er Mitte des letzten Jahrhunderts in Mode gewesen sein mochte. Ich durchsuchte die Taschen und fand die Rechnung eines Herrenschneiders. Sie stammte aus dem Jahre 1833 und lautete auf einen gewissen Edward Fairfax Rochester, Esq.
Bleischwer sank ich aufs Bett und starrte auf diese Fundstücke.
Normalerweise wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, daß Rochester in jener Nacht
Jane Eyre
entstiegen sein könnte, um mir zu helfen; so etwas war schließlich völlig unmöglich. Ich hätte das Ganze vermutlich als albernen Scherz abgetan, wenn, ja, wenn Edward Rochester und ich uns nicht schon einmal begegnet wären …
6. Jane Eyre: Ein kleiner Ausflug in den Roman
Als wir vor der Wohnung von Styx zusammentrafen, war dies weder die erste noch die letzte Begegnung zwischen Rochester und mir. Das erste Mal liefen wir uns in Haworth House in Yorkshire über den Weg, als ich noch jung und aufgeschlossen war und die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie sich noch nicht zu dem Panzer verhärtet hatte, der uns als Erwachsene umgibt.
Damals war die Grenze biegsam, weich, und dank der Hilfsbereitschaft einer Fremden und dem Zauber ihrer Stimme machte ich die kleine Reise – hin und zurück.
THURSDAY NEXT Ein Leben für SpecOps
Es war 1958. Mein Onkel und meine Tante – die mir damals schon uralt vorkamen – waren mit mir nach Haworth House, der alten Brontë-Villa, gefahren. In der Schule hatten wir William Thackeray gelesen, und da er ein Zeitgenosse der Brontë-Schwestern war, schien dies eine willkommene Gelegenheit, mein Interesse an dieser Epoche zu vertiefen. Mein Onkel Mycroft hielt an der Bradford University Vorlesungen über seine Spieltheorie, was den praktischen Vorteil hatte, daß ich beim »Mensch, ärgere dich nicht« fast immer gewann.
Da es von Bradford nach Haworth nicht allzu weit war, beschlossen wir, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.
Die Museumsführerin, eine dickliche Frau um die sechzig mit Nickelbrille und Angorastrickjacke, lotste die Besucher mürrisch durch die Räume, weil ohnehin niemand soviel Ahnung hatte wie sie und sie sich nun dazu herablassen mußte, die Leute aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen. Gegen Ende des Rundgangs, als die Gedanken längst bei Ansichtskarten und Eiscreme waren, erwartete das Glanzstück der Sammlung, das Originalmanuskript
von Jane Eyre
, die müden Museumsbesucher.
Obwohl die mit verblaßter schwarzer Tinte bedeckten Seiten längst vergilbt waren, vermochte das geübte Auge die feine, krakelige Handschrift, die sich über das Papier zog, durchaus zu entziffern. Alle zwei Tage wurde eine Seite umgeblättert, so daß die ehrgeizigsten Brontë-Anhänger und Stammbesucher des Museums den Roman in seiner ursprünglichen Fassung lesen konnten.
An dem Tag, als ich Haworth House besuchte, lag das Manuskript an der Stelle aufgeschlagen, wo sich Jane und Rochester das erste Mal begegnen, ein zufälliges Zusammentreffen an einem Zauntritt.
»… weshalb es als eines der romantischsten Bücher gilt, die je geschrieben wurden«, leierte die ebenso dickliche wie aufgeblasene Führerin ihren ewiggleichen Monolog herunter, ohne die erhobenen Hände lästiger Fragesteller zu beachten.
»Die Figur der Jane Eyre, einer starken, selbstbestimmten Frau, unterschied sich grundlegend von den üblichen Romanheldinnen jener Zeit, und auch Rochester, ein abstoßender, im Grunde jedoch herzensguter Mensch, fiel durch seine Charakterschwächen und seinen makabren Humor sehr aus dem Rahmen.
Jane Eyre
schrieb Charlotte Brontë 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell. Thackerey nannte den Roman ›das Meisterwerk eines großen Genies‹. Wir gehen nun weiter zum Museumsladen, wo Sie Ansichtskarten, Gedenktafeln, kleine Plastik-Heathcliffs und andere Souvenirs kaufen können. Ich danke Ihnen für Ihre …«
Einer der Zuhörer hob kurzentschlossen die Hand und fiel ihr ins Wort. »Entschuldigen Sie …«, begann der junge Mann mit amerikanischem Akzent.
Ein Wangenmuskel der Museumsführerin zuckte kaum merklich; es kostete sie sichtlich Überwindung, anderer Leute Ansichten Gehör zu schenken. »Ja?« fragte sie mit eisiger Höflichkeit.
»Also«, fuhr der junge Mann fort. »Die Brontës waren bisher eigentlich nicht so mein Ding, aber ich hatte irgendwie ziemliche Probleme mit dem Schluß von
Jane Eyre
.«
»Probleme?«
»Ja. Wenn Jane aus Thornfield Hall abhaut
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