Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
erschrocken. Der Weg war schmal, und ich trat zurück, um das Pferd vorbeizulassen.
Während ich noch wartete, kam ein großer, schwarzweiß gefleckter Hund die Hecke entlanggelaufen und schnüffelte forschend umher.
Der Hund ignorierte die Gestalt auf dem Zauntritt, blieb jedoch schlagartig stehen, als er mich sah. Begeistert mit dem Schwanz wedelnd, sprang er auf mich zu und beschnupperte mich; sein heißer Atem hüllte mich in einen warmen Mantel, und seine Barthaare kitzelten meine Wange. Als ich zu kichern anfing, wedelte der Hund noch aufgeregter mit dem Schwanz. Er schnüffelte seit 130 Jahren bei jeder Lektüre des Romans an dieser Hecke entlang, war dabei aber noch nie auf etwas gestoßen, das so, na ja …
echt
roch. Er schleckte mich mehrmals ab, mit großer Zuneigung und Hingabe. Ich stieß ihn kichernd von mir, und er lief davon, um einen Stock zu suchen.
Heute, nach mehrfacher Lektüre des Romans, weiß ich, daß der Hund – er hieß Pilot – im Buch nie Stöckchen suchen durfte, weil er dazu viel zu selten auftrat, weshalb er sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Vermutlich hatte er instinktiv gespürt, daß das kleine Mädchen, das da plötzlich auf Seite 81 auftauchte, nicht an die strenge Erzählstruktur gebunden war. Er wußte, daß er die Grenzen der Geschichte hier und da ein klein wenig ausweiten und sich zum Beispiel aussuchen konnte, auf welcher Seite des Weges er schnüffeln wollte; wenn jedoch im Text stand, daß er bellen, umherrennen oder aufspringen sollte, mußte er sich wohl oder übel danach richten. Er war zu einem langen, sich endlos wiederholenden Dasein verurteilt, was die seltenen Auftritte von Menschen wie mir um so erfreulicher machte.
Als ich aufblickte, stellte ich fest, daß Roß und Reiter die junge Frau passiert hatten. Der Reiter war ein hochgewachsener Mann mit scharf geschnittenen Zügen und einem von Sorgen geprägten Gesicht, dessen Stirn von düsteren Gedanken umwölkt schien. Er hatte meine kleine Gestalt bislang nicht bemerkt, dabei führte ihn sein Weg genau dort entlang, wo ich jetzt stand, über eine tückische Eispfütze hinweg.
Gleich darauf stand das Pferd vor mir, trappelte mit schweren Hufen über den gefrorenen Boden und blies mir aus samtigen Nüstern seinen heißen Atem ins Gesicht.
Plötzlich, als er das kleine Mädchen sah, das ihm den Weg verstellte, rief der Reiter: »Verflucht …!« und lenkte das Pferd rasch nach links, von mir fort, auf das glatte Eis. Das Pferd verlor den Halt und stürzte krachend zu Boden. Ich trat einen Schritt zurück, beschämt über den Unfall, den ich verursacht hatte; das Pferd versuchte verzweifelt Fuß zu fassen. Als der Hund den Tumult bemerkte, kam er angelaufen, legte mir den Stock vor die Füße, und als er seinen Herrn in Schwierigkeiten sah und das Pferd ächzen und stöhnen hörte, begann er aufgeregt zu bellen, so daß sein heiseres Knurren durch den stillen Abend hallte. Die junge Frau näherte sich dem Mann mit tief besorgter Miene. Sie wollte sich nützlich machen, ihre Hilfsbereitschaft zeigen, und sagte: »Sind Sie verletzt, Sir?«
Der Reiter murmelte etwas Unverständliches und würdigte sie keines Blickes.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie noch einmal.
»Treten Sie beiseite«, antwortete der Reiter schroff und rappelte sich mühsam hoch. Die junge Frau trat zurück, während der Reiter seinem Pferd, das wild mit den Hufen klapperte und stampfte, auf die Beine half. Nachdem er den Hund mit einem lauten »Kusch!« zum Schweigen gebracht hatte, bückte er sich und betastete sein Bein; es war offenbar verletzt. Seinem brüsken Benehmen nach zu urteilen, war mir der Mann gewiß ganz schrecklich böse, doch als er mich zum zweiten Mal erspähte, zwinkerte er mir zu meinem größten Erstaunen freundlich zu und mahnte mich zum Schweigen, indem er lächelnd einen Finger an die Lippen hob. Ich erwiderte sein Lächeln, und der Reiter wandte sich der jungen Frau zu. Dabei verzog sich sein Gesicht erneut zu einer düsteren Grimasse, wie es seine Rolle verlangte.
Von ganz weit oben hörte ich eine Stimme. Sie rief meinen Namen.
Dunkle Wolken rasten über den Himmel. Die kalte Luft auf meinen Wangen erwärmte sich, als der Weg, das Roß, der Reiter und die junge Frau verschwanden und in den Roman zurückkehrten, dessen Seiten sie entsprungen waren. Der Museumssaal nahm Gestalt an, und die Bilder und Gerüche wurden wieder zu bloßen Wörtern, als die Japanerin den Satz zu
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