Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
und setzte mich. Ich griff ein paar Akkorde und testete erst meinen Arm, bevor ich übermütig wurde und mich an der unteren Hälfte eines Duetts versuchte, das ich im Kopf behalten hatte. Ich sah zum Barkeeper hinüber, um mir noch etwas zu trinken zu bestellen, doch der trocknete gerade Gläser ab.
Als ich zum dritten Mal zur Einleitung der oberen Hälfte des Duetts kam, erschien jäh eine Männerhand und spielte die erste Note des Diskantparts genau im Takt. Ich schloß die Augen; ich wußte sofort, wer es war, nahm mir jedoch vor, nicht aufzublicken. Ich roch sein Aftershave und bemerkte die Narbe an seiner linken Hand. Mir sträubten sich die Nackenhaare, und ich spürte, wie ein Schauder mich durchlief. Ich rückte instinktiv ein Stück nach links, damit er sich setzen konnte. Seine Finger huschten wie meine über die Tasten, und wir spielten nahezu fehlerlos. Der Barkeeper warf uns einen anerkennenden Blick zu, und selbst die Anzugträger holten auf zu reden und wandten den Kopf, um zu sehen, wer da spielte. Ich schaute immer noch nicht auf. Als sich meine Hände an die halbvergessene Melodie gewöhnt hatten, wurde ich selbstbewußter und steigerte das Tempo. Mein unsichtbarer Partner hielt tapfer mit.
So spielten wir fast zehn Minuten, und ich hatte ihn immer noch nicht angesehen, weil ich wußte, daß ich dann lächeln würde, und das wollte ich auf keinen Fall. Er sollte merken, daß ich nach wie vor sauer war.
Dann
konnte er mich becircen. Als das Stück schließlich zu Ende war, starrte ich weiter vor mich hin. Der Mann neben mir rührte sich nicht von der Stelle.
»Hallo, Landen«, sagte ich nach einer Weile.
»Hallo, Thursday.«
Ich spielte traumverloren ein paar Töne, ohne aufzublicken. »Lange nicht gesehen«, sagte ich.
»Zehn Jahre«, antwortete er. »Um genau zu sein.«
Seine Stimme klang genau wie früher. Die vertraute Wärme und Sensibilität waren immer noch da. Ich hob den Kopf, sah ihn an und blickte schnell in die andere Richtung. Ich hatte feuchte Augen. Meine Gefühle waren mir peinlich, und ich kratzte mich nervös an der Nase.
Er war ein wenig grau geworden, trug sein Haar aber mehr oder weniger genauso wie früher. Er hatte zarte Falten rings um die Augen, aber die konnten vom Lachen herrühren.
Als ich ihn verlassen hatte, war er dreißig und ich sechsundzwanzig gewesen. Ich fragte mich, ob ich genauso gut gealtert war wie er. War ich nicht längst zu alt, um ihm noch böse zu sein? Wenn ich auf Landen sauer war, machte das Anton schließlich auch nicht wieder lebendig. Ich wollte ihn schon fragen, ob wir es nicht noch mal miteinander probieren sollten, aber als ich den Mund aufmachte, kam die Welt scheppernd zum Stillstand. Das Dis, das ich eben angeschlagen hatte, hallte nach, und Landen starrte mich an, sein Blick ein gefrorener Lidschlag. Dads Timing hätte gar nicht schlechter sein können.
»Hallo, Schätzchen!« rief er, löste sich aus dem Schatten und kam auf mich zu. »Störe ich?«
»Allerdings – ja.«
»Es dauert auch nicht lange. Was hältst du davon?« Er reichte mir einen krummen, gelben Gegenstand, etwas größer als eine Möhre.
»Was ist das?« fragte ich und roch vorsichtig daran.
»Die Frucht einer neuen Designer-Pflanze, die erst in siebzig Jahren auf den Markt kommen soll. Guck mal …«
Er schälte sie und ließ mich kosten.
»Lecker, was? Man kann sie pflücken, lange bevor sie reif ist, und sie notfalls über Tausende von Meilen transportieren; in ihrer hermetisch versiegelten, biologisch abbaubaren Verpackung hält sie sich hundertprozentig frisch. Nahrhaft und lecker ist sie auch. Sie wurde von einer genialen Gentechnikerin namens Anna Bannon sequenziert. Wir wissen nicht so recht, wie wir sie nennen sollen. Hast du vielleicht eine Idee?«
»Dir wird schon was einfallen. Was hast du damit vor?«
»Ich dachte, ich führe sie vor zehntausend Jahren ein und schaue, was passiert – Brot für die Welt, so in der Art. Na gut,
die Zeit wartet auf niemand
, wie es bei uns heißt. Dann will ich dich mal wieder Landen überlassen.«
Die Welt lief flackernd wieder an. Landen schlug die Augen auf und sah mich an.
»Banane«, sagte ich, als mir mit einem Mal klar wurde, was mir mein Vater gezeigt hatte.
»Wie bitte?«
»Banane. Sie haben sie nach der Designerin benannt.«
»Thursday, du redest wirr«, sagte Landen mit amüsiertem Grinsen.
»Mein Vater war gerade da.«
»Aha. Ist er immer noch ein Mann aller Zeiten?«
»Alles wie gehabt. Paß
Weitere Kostenlose Bücher