Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
trug ein Kostüm aus dem sechzehnten Jahrhundert und hatte sich eine originalgetreue Kopie der »Hand Gottes« aus der Sixtinischen Kapelle ins Gesicht tätowieren lassen.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber was sagen Sie zu dem Vorwurf, daß Sie ein intoleranter Haufen sind, dem es schlicht an Respekt und Verständnis für das Neue und Experimentelle in der Kunst mangelt?«
Der Renaissancist starrte wütend in die Kamera.
»Angeblich machen ja immer nur wir Ärger, dabei hab ich hier heute mindestens genauso viele Barock-Kids, Raffaeliten, Romantiker und Manieristen gesehen. Das hier ist eine überwältigende Demonstration für die Einheit der klassischen Kunst, gegen diese oberflächlichen Arschlöcher, die sich unter dem Deckmäntelchen des sogenannten ›Fortschritts‹ verkriechen. Es sind nicht nur …«
Der Polizeibeamte ging dazwischen und zerrte ihn mit sich davon.
Grubb wich einem fliegenden Pflasterstein aus und beendete seinen Bericht.
»Henry Grubb für das Toad News Network, live aus Chiswick.«
Ich schaltete die Glotze ab; die Fernbedienung war am Nachttisch festgekettet. Ich setzte mich aufs Bett, zog den Gummi aus meinem Haar und massierte mir die Kopfhaut. Ich schnupperte unschlüssig an meinen Haaren und entschied mich gegen eine Dusche. Ich hatte Landen vor den Kopf gestoßen, ohne es zu wollen. Trotz aller Differenzen hatten wir immer noch genug Gemeinsamkeiten, um gute Freunde zu bleiben.
11. Polly, Wordsworth und Narzissen
Ich glaube, Wordsworth war genauso erstaunt, mich zu sehen, wie ich ihn. Es passiert schließlich nicht alle Tage, daß man zu seiner liebsten Erinnerung zurückkehrt, und es ist schon jemand da und bewundert die Aussicht.
POLLY NEXT - aus einem Exklusivinterview mit der
Owl on Sunday
Während ich mich wegen Landen plagte, arbeiteten mein Onkel und meine Tante fieberhaft in Mycrofts Werkstatt. Wie ich später erfuhr, lief es prächtig. Zu Anfang jedenfalls.
Mycroft fütterte seine Bücherwürmer, als Polly die Werkstatt betrat; sie hatte eben einige unglaublich komplizierte mathematische Berechnungen für ihn angestellt.
»Schatz, ich habe die Lösung, die du gesucht hast«, sagte sie und saugte an einem abgenagten Bleistiftstummel.
»Und die lautet?« fragte Crofty und kippte seinen Bücherwürmern Präpositionen in den gierigen Rachen.
»Neun.«
Mycroft murmelte etwas Unverständliches und schrieb die Zahl auf einen Notizblock. Er öffnete den Deckel des großen, messingbeschlagenen Buches, auf das ich am Abend zuvor nur einen flüchtigen Blick hatte werfen dürfen, und legte ein Großdruckexemplar von Wordsworths Gedicht ›Die Narzissen‹ in die Vertiefung in der Mitte. Dann gab er eine Handvoll Bücherwürmer hinzu, die sich eifrig ans Werk machten. Sie glitten über den Text, wobei ihr kollektives Unbewußtes jeden Satz, jedes Wort, jeden Vokal und jede Silbe in sich aufnahm. Sie gingen den historischen, biographischen und geographischen Anspielungen auf den Grund, erforschten die in Metrum und Rhythmus verborgenen Bedeutungen und jonglierten geschickt mit Subtext, Inhalt und Metaphern. Danach dichteten sie selbst einige Verse und übersetzten sie in Binärcode.
See! Narzissen! Einsamkeit! Erinnerung!
wisperten die Würmer aufgeregt, als Mycroft das Buch vorsichtig zuklappte und verschloß.
Er steckte das Starkstromkabel in die Buchse an der Rückseite des Buches und legte den Netzschalter um; dann machte er sich an den unzähligen Knöpfen und Reglern auf dem Deckel des Buches zu schaffen. Obwohl es sich bei dem Prosa-Portal im wesentlichen um einen Biomechanismus handelte, mußten vor Inbetriebnahme des Gerätes zahlreiche Regler eingestellt werden; und da das Portal noch sehr kompliziert war, blieb Mycroft nichts anderes übrig, als die genaue Abfolge der einzelnen Schritte in einem Vokabelheft festzuhalten, von dem es – zum Schutz gegen ausländische Spione – nur dieses eine Exemplar gab. Er starrte eine Weile angestrengt in das kleine Heft, bevor er an Reglern drehte, Knöpfe drückte und langsam die Stromzufuhr erhöhte, wobei er in einem fort vor sich hin murmelte: »Binometrik, Spherik, Numerik. Ich bin …«
»Drin?«
»Nein«, antwortete Mycroft traurig. »Doch, warte …
jetzt!
«
Er lächelte zufrieden, als auch die letzte Warnleuchte erlosch. Er nahm die Hand seiner Frau und drückte sie zärtlich.
»Möchtest du mir die Ehre erweisen«, fragte er, »und als erster Mensch ein Wordsworth-Gedicht betreten?«
Polly sah ihn ängstlich an.
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