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Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

Titel: Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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dahin, und nun konnte sie die Inseln deutlich sehen, nach Lee hin die höchste der drei. Serpentinen markierten die Stelle, wo Meer und Ufer in der Ferne aufeinandertrafen. »Der erwählte Ort! Und schau – Mers!« Sie hauchte ehrfurchtsvoll einen Kuß.
    Langgestreckte, sinusförmige, scheckige Nacken brachen rings um sie her durch die Wasseroberfläche, elfenbeinfarbene Augen betrachteten sie mit unwägbarem Wissen. Die Mers waren die Kinder des Meeres und das Glück des Seemanns. Ihre Gegenwart konnte nur bedeuten, daß die Herrin lächelte.
    Funke sah zu ihr her, und plötzlich lachte er auch und nahm sie bei der Hand. »Sie führen uns ... Sie weiß, weshalb wir kommen. Wir haben es tatsächlich geschafft, wir werden auserwählt werden.« Er nahm die gewundene Muschelflöte aus einer Gürteltasche und spielte ein paar trällernde Noten. Die Köpfe der Mers begannen mit der Musik zu wippen, ihre eigenen dünnen und hohen Stimmen schufen Kontrapunkte. Wie die alten Erzählungen zu berichten wußten, beklagten sie einen großen Verlust oder einen großen Fehler, aber keine zwei Erzählungen stimmten darin überein, was für ein Verlust oder Fehler das gewesen war.
    Mond lauschte ihrer Musik und fand sie nicht das kleinste bißchen traurig. Doch ihre eigene Kehle war plötzlich zu sehr zugeschnürt zum Singen: In Gedanken sah sie ein anderes Ufer, das lag schon ein halbes Leben zurück, wo zwei Kinder einen Traum aufgenommen hatten, der wie eine seltene, gewundene Muschel zu Füßen eines Fremden im Sand gelegen war. Sie folgte der Erinnerung in der Zeit zurück ...
     
    Mond und Funke laufen barfuß an den rauhen Kais der seichten Hafenbecken entlang, zwischen sich halten sie, von Schulter zu schlanker Schulter, ein Netz wie eine Hängematte. Ihre bloßen Füße plitschen und platschen die steingefaßten Wege entlang, immun gegenüber Schmerzen und dem eiskalten Wasser. Die Klee in den Becken, normalerweise so träge wie die Steine am algenüberwucherten Grund, strebten mit ungewohnter Hast zur Oberfläche, um die beiden Kinder vorübereilen zu sehen. Sie bliesen schnaubend Wasser in die Luft und grunzten hungrig, doch die Netze waren leer, die Last aus getrocknetem Seegras war bereits in die Verteilerkörbe für die Nachmittagsfütterung eingefüllt worden.
    »Beeil dich, Fünkchen!« Mond, wie immer in Führung, zerrte an dem Netz und zog damit ihren kleineren Vetter wie eine störrische Fischladung mit sich. Sie strich sich geschwind ihre schneeweißen Locken aus dem Gesicht, während ihr Blick starr über den azurblauen Kanal gerichtet blieb, der direkt an den Fischbecken vorbei und zur Küste führte. Die Spitzen der Segel waren bereits zu erkennen – die Fischfangflotte lief ein. »Wir werden nie rechtzeitig zu den Docks kommen!« Frustriert zog sie noch heftiger.
    »Ich
beeile
mich ja, Mond. Es ist fast, als würde auch
meine
Mutter heimkommen!« Funke schaffte es, noch etwas zuzulegen. Sie merkte, wie er aufholte, und hörte ihn keuchen. »Meinst du, Gran wird Honigkuchen backen?«
    »Klar!« Sie sprang und wäre fast gestolpert. »Ich habe gesehen, wie sie schon den Topf hervorgeholt hat.«
    Sie rannten weiter, fast tanzend, hurtig über die Steine und zum hitzeflimmernden Nachmittagsstrand und dem Dorf. Mond stellte sich das braune, lachende Gesicht ihrer Mutter vor, wie sie es zuletzt gesehen hatte, mehr als drei Monate waren seither vergangen: volle, sandfarbene Strähnen, die auf ihrem Kopf aufgetürmt, aber unter einer dunklen Strickmütze verborgen sind, ein dicker Rollkragenpullover, schwere Stiefel, ein Aufzug, der sie fast ununterscheidbar von ihrer Mannschaft nacht, als sie sie zum Abschied küßt, während die Segel des Fischerbootes sich schon im Winde blähen.
    Aber heute kehrte sie wieder heim. Sie würden alle mit den anderen Familien zur Dorfhalle gehen, um zu feiern und zu tanzen. Und dann, sehr spät in der Nacht, würde sie sich im Schoß ihrer Mutter zusammenkuscheln (obwohl sie dazu langsam fast zu groß wurde), die kräftigen Arme festhalten und hinübersehen zu Funke, ob der in den Armen Grans zuerst einschlafen würde. Die Flammen würden warm und anheimelnd im Herd tanzen, dazu der Geruch nach Salz und Meer im Haar ihrer Mutter, das leise, hypnotische Murmeln von Gran, die sich für die Rückkehr ihrer Tochter beim Meer bedankte, das die Mutter aller war.
    Mond sprang hinab in den goldbraunen Sand des Strandes. Funke hopste ebenfalls von der Mauer herunter, ihre Schatten tanzten

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