Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Nachdem der Wind nachgelassen hatte, war der Tag vollkommen still, sie hatte keine Spuren von Lebewesen gesehen, die größer als ein Käfer waren. Vielleicht einmal den fernen Schrei eines Vogels ... Mehr als dreißig Meter unter ihr glitzerte der Bach, während die wuchernde grüne Wand zu ihrer Linken dreißig Meter aufragte. Obwohl sie als Seefrau an schwankenden Boden und enge Pfade zwischen den Fischbecken gewöhnt war, machte dieser Kontrast sie schwindelig.
Funke klammerte sich an einem Busch fest und kratzte sich im Gesicht. »Das ist nichts für Hasenfüße«, sagte er, ohne es wahrscheinlich laut aussprechen zu wollen.
»Kann man wohl sagen«, erwiderte sie und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht.
»Meinst du, das ist bereits der Test?« Sie preßten sich vorsichtig an einen Ausschnitt der bröckeligen, erodierten Felswand.
»Herrin!« Halb Fluch, halb Gebet. »Mir reicht's!«
»Wie lange geht das noch so? Was ist, wenn es dunkel wird?« »Weiß ich nicht. Das Tal endet dort oben.«
»Ich dachte, dein Großvater hätte das in seiner Jugend schon gemacht. Ich dachte, du wüßtest Bescheid.«
Mond schluckte. »Gran sagte mir, er habe aufgegeben und sei umgekehrt. Er hat die Höhle nie gefunden.«
»Das sagst du mir jetzt!« Aber er lachte. »Irgendwie hatte ich mir das ganz anders vorgestellt.«
Unter ihnen war der Bach in sich gewunden, während der Sims, auf dem sie gingen, sich nach der nächsten Biegung verbreiterte, und mit ihm auch die ausgetretene Fährte. Hier, in diesem vom Meerwind geschützten Inlandtal, wurde die Hitze von den heißen Felsen reflektiert. Mond zog im Gehen ihre schwere Parka aus, Funke hatte seine bereits über die Schulter geschlungen und die Ärmel zusammengeknotet. Die Brise drückte das feuchte Leinenhemd gegen ihre Brust. Sie knöpfte das Hemd bis zum Gürtel auf und kratzte sich seufzend. »Mir ist heiß, weißt du das? Echt heiß! Und was macht man, wenn einem heiß ist? Man kann immer mehr Kleidungsstücke anlegen, aber man kann nicht mehr ausziehen, als man anhat.« Sie löste den Wasserschlauch von ihrem Gürtel und trank. Irgendwo vor sich hörte sie ein raschelndes Geräusch, aber sie dachte dabei nur an Fett, das in einer Pfanne brutzelt.
»Vielleicht müssen wir uns darüber überhaupt nicht mehr den Kopf zerbrechen.« Funke zuckte mit der ihm eigenen trockenen Vernünftigkeit die Achseln. »Der Hochsommer ist noch lange nicht angebrochen. Vielleicht sind wir schon tot, ehe es so heiß wird.« Er glitt aus und fiel grunzend auf die Knie. »Vielleicht auch schon früher. «
»Sehr komisch.« Sie half ihm auf. Ihre eigenen Füße waren so gefühllos wie Stein. »Man kann den Sommerstern schon sehen. Ich habe ihn vor ein paar Tagen zwischen meinen Fingern gesehen ... Oh ... «, flüsterte sie. Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihr heißes Gesicht.
»Ja.« Funke pochte gegen die gekrümmte Felswand. Hinter der letzten Biegung wurde das Rascheln zum Donnern immenser Wassermassen, die über Felsenklippen in die Tiefe stürzten, ewig in den eigenen Tod. Dort endete der Pfad.
Atemlos und verwirrt standen sie in der Kakophonie von Lauten und Gischt vor dem Wasserfall. »Er kann hier nicht enden!« Funke betrachtete den Fall. »Wir wissen, daß es der richtige Weg ist. Wo ist er?«
»Hier!« Mond hatte sich niedergekauert und spähte über den Felsvorsprung am Rande des Wasserfalls, lose Haarsträhnen fielen nach vorne ins tröpfelnde Wasser. »Handgriffe im Fels.« Sie stand wieder auf und strich ihr Haar zurück. »Plötzlich ist es nicht mehr ... « Sie schüttelte den Kopf, verstummte, als sie den zornigen Ausdruck seines Gesichts bemerkte.
»Was soll das eigentlich?« brüllte Funke ins Tal hinab und zurück zum Meer. »Was für Beweise brauchst Du denn noch? Sollen wir uns selbst umbringen?«
»Nein!« Mond zupfte ihn am Ärmel, seine Wut knirschte wie Sand über ihre Müdigkeit. »Sie will nur, daß wir ganz sicher sind.« Sie setzte sich hin und zog ihre Schuhe aus. »Und das sind wir.« Sie schwang einen Fuß über den Rand.
Sie kletterte hinab, das Dröhnen und Spritzen der Gischt erfüllte all ihre Sinne und zerschmetterte ihre Furcht. Sie sah Funke, der über ihr ebenfalls zu klettern begann. Sie sagte sich immer wieder, daß vor ihnen schon zahllose Leute diesen Weg gegangen waren, ungezählte Jahre lang ... (ihr Fuß tastete über nassen Fels) ... und sie würde es auch schaffen ... (ein weiterer Schritt! Ihre Finger umklammerten
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