Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
völlig Natürliches, doch das Privatleben war auch ausschließlich eine Privatangelegenheit, und so hatte auch sie viele Stunden mit ernsthafter, zurückgezogener Meditation verbracht, aus der sich nur allzu rasch sehnsüchtige Tagträume neidischen Verlangens entwickelt hatten. Eines hatte sie über Sibyllen bisher in aller Deutlichkeit erfahren, nämlich daß sie keinesfalls über den gewöhnlichen Menschen standen. Aus der Saat ihrer Bestimmung erwuchsen nur allzu leicht Sorge, Zorn und all die anderen Frustrationen des Lebens, und mitunter führten auch die edelsten Ziele zu Fehlentscheidungen. Sie lachte und weinte; wie sie sich nach seiner Berührung sehnte ..
»Mond?«
Als sie Clavallys Stimme hinter sich hörte, drehte sie sich schuldbewußt um.
»Geht es dir gut?« Clavally ließ sich an ihrer Seite im Gras nieder und legte ihr eine Hand auf den Arm.
Jenseits des wirbelnden Energiestrudels, den mittlerweile jede Frage in ihrem Verstand entfesselte, spürte Mond nun auch einen Strudel anderer Gefühle – Elend, das nach Gesellschaft verlangte. Sie konnte es kaum unter Kontrolle halten. »Ja«, schluchzte sie, »aber manchmal ... vermisse ich Funke.«
»Funke? Deinen Vetter?« Clavally nickte. »Jetzt erinnere ich mich. Ich habe euch zusammen gesehen. Ihr sagtet, ihr wolltet für immer beisammen bleiben. Aber er kam nicht mit dir?«
»Doch! Aber die Herrin hat – ihn abgewiesen. Ein Leben lang wollten wir das hier gemeinsam vollbringen – und dann hat sie ihn einfach abgewiesen.«
»Und du bist trotzdem gekommen?«
»Ich mußte. Ich habe mein halbes Leben lang darauf gewartet, eine Sibylle zu werden. Um in der Welt etwas zu
gelten.«
Mond zog die Knie enger an den Körper, als eine Wolke plötzlich die Sonne verdunkelte. Unter ihrem Schatten wurde das Meer aschgrau. »Aber er konnte das nicht verstehen. Er sagte viele dumme, haßerfüllte Worte. Er ... er ging nach Karbunkel. Er ging im Zorn weg. Ich weiß nicht, ob er jemals zurückkehren wird.« Sie sah auf und begegnete Clavallys Blick, in dem sie Sympathie und Verständnis sah, dem sie so lange ausgewichen war. Nun erst erkannte sie, welchen Fehler sie damit gemacht hatte, die Bürde alleine zu tragen. »Warum hat die Herrin uns nicht beide erwählt? Wir waren immer beisammen! Weiß Sie denn nicht, daß wir zusammengehören?«
Clavally schüttelte den Kopf. »Sie weiß, daß es anders ist, Mond. Darum hat Sie nur dich erwählt. Funke hatte etwas in sich, das du nicht hast – oder umgekehrt –, und deswegen hat sie ihn abgewiesen, als Sie in der Höhle eure Herzen prüfte. Wahrscheinlich fand Sie etwas Falsches in seinem.«
»Nein!« Monds Blick glitt übers Meer zur Insel der Auserwählten. Dunkle Wolken am Himmel kündeten von einem erneuten Regenschauer. »Ich meine ... in Funke gibt es nichts Falsches. Liegt es daran, daß sein Vater kein Sommer war? Weil er sich für Technik interessiert? Vielleicht hielt ihn die Herrin nicht für einen wahren Gläubigen. Sie erwählt keine Wintermenschen zu Sibyllen.« Monds Finger tasteten im feuchten Gras, als suchten sie dort nach einer Antwort.
»Doch. Das tut sie.«
»Wirklich?«
»Danaquil Lu ist ein Winter.«
»Tatsächlich?« Mond hob den Kopf. »Aber ... wie? Warum? Ich hörte doch immer ... jeder sagt, sie glauben nicht. Und sie sind nicht ... wie wir«, schloß sie unsicher.
»Die Wege der Herrin sind unerforschlich. Im Herzen von Karbunkel ist eine Art Brunnen, der sich zum Meer öffnet. Er befindet sich im Palast der Königin. Bei seinem ersten Besuch am Hof mußte Danaquil Lu die Brücke überqueren, die den Brunnen überspannt – und die Meeresmutter rief ihn an und sagte ihm, daß er eine Sibylle werden müßte.«
Clavally lächelte nachdenklich. »Wo immer du sie auch antriffst, sind die Menschen wie süße und saure Früchte in ein und demselben Korb. Die Herrin erwählt diejenigen, die am ehesten nach Ihrem Geschmack sind, und Sie scheint es dabei nicht zu kümmern, ob der oder die Betreffende Sie verehrt, oder eine andere.« Ihre Augen, obwohl auf die Räumlichkeiten im Antlitz der Klippe gerichtet, schienen in weite Ferne zu blicken. »Aber nur wenige des Wintervolks wollen je zur Sibylle werden, weil man ihnen beibringt, daß das Wahnsinn oder Aberglaube ist. Sie bekommen auch kaum einmal eine Sibylle zu Gesicht, da ihnen der Besuch Karbunkels untersagt ist. Die Außenweltler hassen sie aus unerfindlichen Gründen, und was die Außenweltler hassen, das hassen die
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