Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Sonne erhellt wurde. Sie konnte nirgendwo Wasser sehen .. .
»Eingabe ...«
Ein Sandozean. Ein unendliches Ufer, ein strandloses Dünenmeer, dessen Wogen von einem niemals endenden Wind gestreichelt wurden ... Ihr Schiff schwebte in weiten Kreisen über dem Sand, aber sie war nicht sicher, wo sie saß. Jedenfalls hatte sie einen Helm auf, der sie vor dem Licht schützte, und vermochte nicht zu sagen, was Wirklichkeit war und was nicht .. .
»Eingabe ...«
Ein Menschenozean. Die Menge umströmte sie an einer Straßenecke von zwei Seiten, sie zupfte und zerrte an ihr wie ein gefährlicher Sog. Maschinen röhrten und rasselten an ihr vorbei, brachten die Gehwege zum Erzittern und beleidigten ihre Nase mit ihrem Gestank und ihre Ohren mit ihrem Lärm ... Ein ganz in Braun gekleideter, dunkelhäutiger Fremder, mit spitzem Hut und glänzenden Stiefeln, griff nach ihrem Arm und sprach sie in einer fremden Sprache an, sein Ton war fragend. Dann veränderte sein Gesichtsausdruck sich abrupt, und er ließ sie los.
»Eingabe ...«
Ein Nachtozean. Das völlige Fehlen von Licht und Leben .. . ein Gefühl makrokosmischen Alters ... das Bewußtsein mikrokosmischer Aktivität ... das Wissen, niemals ans Herz aller Dinge gelangen zu können, egal wie oft sie auch zu dieser mitternächtlichen Leere zurückkehren würde, dieser absoluten Leere, dem Nichts ...,
»... Keine weitere Analyse!«
Sie vernahm den Widerhall des Wortes, und ihr Kopf sank erleichtert nach vorne. Sie atmete auf, als die Trance sie verließ und sie wieder in ihre eigene Welt zurückkehren konnte. Sie sank auf die Knie und entspannte die Muskeln ihres Körpers. Sie atmete tief und konzentrierte sich auf jedes kleinste Gefühl.
Sie öffnete die Augen und spürte augenblicklich die beruhigende Gegenwart von Danaquil Lu, die auf dem hölzernen Stuhl in der gegenüberliegenden Wand des Zimmers saß und ihr freundlich zulächelte. Mittlerweile konnte sie ihren eigenen Körper während eines Transfers kontrollieren, man mußte sie eicht mehr festhalten und an die reale Welt ketten. Sie lächelte hm mit verhaltenem Stolz zu, dann nahm sie mit überkreuzten (feinen auf der gewebten Matte Platz.
Clavally erschien in der Türöffnung, ihre Gestalt verwehrte dem Sonnenlicht den Zutritt, das bisher Monds Rücken gewärmt hatte. Mond sah zu, wie sie auf den zweiten Lichtfleck unter dem Fensterrahmen zuschritt. Clavally griff geistesabwesend nach dem ewig zerzausten Haar von Danaquil Lu, das sie zu glätten versuchte. Danaquil Lu war ein stiller, fast scheuer Mann, der allerdings rasch und herzhaft über Clavallys andauernde Bemühungen lachen konnte. Irgendwie erschien er Mond auf dieser Insel fehl am Platz oder unpassend zu sein, wenn sie ihn in diesen Kammern mit den unbehauenen Felswänden sitzen sah. Sie konnte nicht einmal ahnen, wohin er gehörte, aber manchmal erhaschte sie einen ähnlichen Ausdruck in seinen Augen. Manchmal sah er auch sie an, und sie konnte dann den Blick seiner Augen auch nie deuten – es war, als hätte er sie bereits zuvor einmal gesehen. Im Nacken und seitlich am Gesicht hatte er häßliche Narben, als ob ein Tier sich einst dort festgekrallt hätte.
»Was hast du gesehen?« Clavally stellte damit eine Frage, die schon zum Ritual geworden war. Um ihr dabei zu helfen, den Transfer kontrollieren zu lernen, die Rituale von Körper und Geist zu meistern, die eine Sibylle leiteten, stellten sie ihr Fragen mit vorhersehbaren Antworten – Fragen, die ihr selbst, als Bestandteil ihrer eigenen Ausbildung, auch gestellt worden waren. Mond hatte gelernt, daß es für sie unmöglich war, die Worte zu wissen, mit denen sie auf die Frage eines Suchers antworten würde. Statt dessen kam eine Vision über sie: eine Schwärze, so dauerhaft wie der Tod ... eine hautnahe Traumwelt irgendwo, mitten in einer anderen Wirklichkeit. Ein geheimnisvoller Strang verband jede Frage mit einem separaten Traum, und so konnten Clavally oder Danaquil Lu ihre Transfererfahrung leiten, um den Schock des schrecklich Fremdartigen etwas zu mildern, den ihre Wahrnehmungen verursachten.
»Ich war wieder im Nichts.« Mond schüttelte den Kopf, um die aberwitzigen Traumbilder loszuwerden, deren Schatten immer noch in ihrer Erinnerung widerhallten. Als allererstes, direkt im Anschluß an ihre Weihe, hatte man ihr geistige Blockierungen und disziplinierte Konzentration beigebracht, damit sie nicht den Verstand verlor, damit die abertausend geheimen Gedanken des allsehenden
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