Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Verstandes der Herrin sie nicht in den Wahnsinn trieben und sie nicht in den Strudel ihrer Visionen geriet, wann immer ein Außenstehender ihr eine Frage stellte. »Woran mag es liegen, daß wir dorthin häufiger als anderswo hin gehen? Es ist, als würde man ertrinken.«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Clavally. »Vielleicht ertrinken wir tatsächlich. Schließlich behauptet man ja, auch Ertrinkende hätten Visionen.«
Mond bewegte sich unbehaglich. »Ich hoffe nicht.«
Gelächter. Clavally kauerte sich neben Danaquil Lu nieder und streichelte zärtlich und nachdenklich seine Schulter. Seine Halskette aus Muschelschalen klapperte leise und melodiös. Die klamme, nächtliche Kälte in diesen Felsenhöhlen machte ihn steif und unbeweglich, aber er beschwerte sich nie.
Vielleicht liegt es daran ...
Mond umklammerte ihre Knie mit den Händen, während sie den beiden zusah.
»Deine Kontrolle ist ausgezeichnet, Mond.« Danaquil Lu lächelte, teilweise wegen ihr, aber auch wegen Clavallys Händen. »Und mit jedem Transfer wird es besser – du hast einen starken Willen.«
Mond zwang sich zum Aufstehen. »Ich brauche etwas frische Luft.« Plötzlich klang ihre Stimme sogar in ihren Ohren dünn und fiepsig. Sie eilte rasch zum Ausgang, obwohl sie wußte, eigentlich benötigte sie gar keine frische Luft.
Sie hastete den Pfad hinab, der zur Anlegestelle der Boote führte, dann eilte sie in den von Zweigen verhangenen Seitenpfad, der zu den blaugrün überwucherten Klippenhöhen führte, die über das sturmgepeitschte Meer aufragten. Schwer atmend ließ sie sich in das salzig schmeckende, karge Gras fallen und zog die Beine an, während sie zu der luftigen Südklippe hinübersah, wo sie in den vergangenen Monaten wie ein Vogel in seinem Hort gelebt hatte. Sie blickte über das Meer und sah in der blauumwölkten Ferne das zerklüftete Rückgrat der Insel der Auserwählten, auf deren kleinerer Schwester sie sich befand und sie erinnerte sich mit der Lebhaftigkeit eines Transfertraums an den Augenblick, als die Entscheidung der Herrin ihren und Funkes Lebensweg getrennt hatte.
Es tut mir nicht leid!
Ihre Faust schlug fest auf das feuchte Gras, dann öffnete sie sie kraftlos wieder.
Sie hob den Arm und betrachtete die dünne, weiße Linie um ihr Handgelenk, wo Clavally sie, wie auch sich selbst, vor vielen Monaten mit einer Sichel geschnitten hatte. Danaquil Lu hatte ihrer beide Gelenke fest aufeinandergepreßt und eine Hymne an die Meeresmutter gesungen, während ihr Blut sich vermischt hatte und zu Boden getropft war. Genau hier, an diesem Ort war das gewesen, genau hier, im Angesicht des Meeres, hatte sie ihre heilige Weihe empfangen, als sie ihr die Kette mit dem Kleeblatt umgehängt und sie damit in einem neuen Lebensabschnitt willkommen geheißen hatten. Sie hatten Wein aus einem Kelch getrunken und damit den Blutseid besiegelt, der sie zur Angehörigen dieser heiligen Gemeinschaft gemacht hatte. Zitternd vor Furcht war ihr abwechselnd heiß und kalt geworden, als sie die Gegenwart der Mutter gespürt hatte, die über sie gekommen war ... dann war sie inmitten ihrer Freunde zusammengebrochen und erst am nächsten Tag, schwach und fiebrig, wieder erwacht, von einer seltsamen Ehrfurcht erfüllt. Sie war eine der wenigen Auserwählten geworden: Anhand der Narben an ihren Handgelenken konnte Mond erkennen, daß Clavally und Danaquil Lu bisher höchstens ein halbes Dutzend andere vor ihr geweiht hatten. Sie nahm das Kleeblatt in die Hände, während sie sich an Funkes Medaillon, das Symbol der Distanz zwischen ihnen, erinnerte. Sie schloß vorsichtig die Hände darum.
Tod, eine Sibylle zu lieben. eine Sibylle zu sein .. .
Aber keineswegs, eine Sibylle zu lieben
und
eine Sibylle zu sein. Sie sah eifersüchtig zur Klippe zurück und stellte sich Clavally und Danaquil Lu vor, die sich während ihrer Abwesenheit ihrer Liebe hingaben. Funkes bittere Abschiedsworte waren mittlerweile nur noch eine dünne, weiße Linie in ihrem Verstand, wie die um ihr Handgelenk. Zeit und die Erinnerungen einer ganzen Lebensspanne hatten ihren Schmerz hinweggespült wie Wogen, die Fußabdrücke am Strand wegspülten, und nur einen blanken Spiegel hinterlassen, eine Reflexion von Liebe und Notwendigkeit. Sie hatte ihn immer geliebt, sie würde ihn immer brauchen. Sie konnte ihn niemals vergessen.
Clavally und Danaquil Lu gehörten zusammen, und dieses Wissen nagte wie ein kleiner Dämon in ihrer Brust. Für das Inselvolk war Sex etwas
Weitere Kostenlose Bücher