Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Wintermenschen ebenfalls. Doch sie glauben an die Allmacht der Mutter.« Die Furchen ihres Gesichts schienen sich zu vertiefen. »Sie haben einen Stab, der in einem mit Dornen besetzten Kragen endet, damit niemand vom Blut einer Sibylle ›befleckt‹ wird ...«
Mond dachte an Daft Nairy ... und an Danaquil Lu. Ihre Hand berührte das kleeblattförmige Mal am Nackenansatz unter dem elfenbeinfarbenen Pullover. »Danaquil Lu ... «
»... wurde bestraft und aus Karbunkel verjagt. Solange die Schneekönigin regiert, kann er niemals mehr dorthin zurückkehren. Ich traf ihn während einer meiner Reisen durch die Inselwelt. Ich glaube, seit wir zusammen sind, ist er glücklich .. . wenigstens aber zufrieden. Ich habe viel von ihm gelernt.« Sie blickte unerwartet herab, und plötzlich glich sie einem Kind. »Ich weiß, wahrscheinlich ist es falsch von mir, aber ich bin fast froh darüber, daß man ihn in die Verbannung schickte.«
»Dann weißt du, wie mir zumute ist.«
Clavally nickte lächelnd zu ihr herab. Sie strich den Ärmel ihrer Parka zurück und entblößte die längst verheilten Narben an ihrem Handgelenk. »Ich habe keine Ahnung, weshalb wir erwählt wurden – aber auf gar keinen Fall, weil wir perfekt sind.«
»Ich weiß.« Mond verzog den Mund. »Aber wenn es nicht an seinem Interesse für Technik liegt, in welcher Hinsicht könnte Funke dann weniger perfekt sein als ich ...«
»... wo du doch der Meinung bist, es könnte auf der ganzen Welt nichts Perfekteres geben als deinen Geliebten, dessen Erinnerung dich nicht losläßt.«
Ein linkisches Nicken.
»Als ich euch beide zum erstenmal gesehen habe, da hatte ich das Gefühl – nach einer Weile entwickelt man so etwas –, daß du erwählt werden würdest, wenn ihr kommt. Du schienst mir
richtig.
Aber Funke ... er hatte etwas Unstetes.«
»Ich verstehe nicht.«
»Du sagtest, er wäre im Zorn gegangen. Du glaubst, er ist teilweise aus berechtigten, teilweise aber auch aus unberechtigten Gründen gegangen – etwa, um dich zu verletzen. Gab er dir die Schuld an deinem Erfolg und seinem Scheitern?«
»Aber ich hätte doch bestimmt ebenso empfunden, wäre er an meiner Stelle erwählt worden, und nicht ...«
»Wirklich?« Clavally blickte sie an. »Vielleicht wäre es uns allen so ergangen ... sämtlicher guter Wille der Welt kann uns nicht davon abhalten, neidisch in den Köder am Angelhaken zu beißen. Aber Funke gab dir die Schuld an dem Geschehenen. Du hättest sie lediglich bei dir selbst gesucht.«
Mond blinzelte stirnrunzelnd. Sie erinnerte sich an ihre gemeinsame Kindheit, und wie sorgsam er darauf bedacht gewesen war, immer mit ihr einer Meinung zu sein. Aber wenn sie doch einmal gestritten hatten, dann war er immer weggelaufen und hatte sie alleine zurückgelassen. Er hatte seinen Zorn oft stundenlang, ja manchmal sogar tagelang, mit sich herumgetragen. Und sie hatte, in der Leere, die sein Weggehen hinterlassen hatte, ihren eigenen Zorn dann immerzu in sich hineingefressen. Sie war immer zu ihm gekommen und hatte sich entschuldigt – sogar dann, wenn er eindeutig im Unrecht gewesen war. »Wahrscheinlich hätte ich das getan. Obwohl es niemandes Schuld ist. Aber auch das ist falsch.«
»Ja ... davon abgesehen, daß es keinem wehtut, außer dir. Das macht meines Erachtens den Unterschied aus.«
Plötzlich fielen zwei dicke Regentropfen auf Monds ungeschützten Kopf, sie sah verwirrt und überrascht auf und zog ihre Kapuze über, während Clavally sich erhob und zu den Unterkünften deutete.
Sie duckten sich unter den Ästen einiger junger Baumfarne hindurch. Einige Minuten lang löschte der Regen jedes andere Geräusch aus. Sie warteten schweigend ab, von einem Feld aus undurchdringlichem Grau geblendet, bis der Regen vom Wind aufs Meer hinausgetragen wurde. Mond entfernte sich vom feuchten, dunklen Unterholz des Farns, um die Regentropfen zu betrachten, die sich wie Perlen im feinen Netzwerk seines Baldachins verfangen hatten, um zögernd zu Boden zu fallen. Sie streckte eine Hand aus. »Es hat schon wieder aufgehört.« Ihr Zorn auf Funke verflog so rasch wie der Regen, und ebensowenig Einfluß hatte er auch auf das Gefüge ihres Lebens. Doch wenn sie einander wieder begegneten, würde sich so vieles zwischen ihnen verändert haben ... »Ich weiß, daß die Menschen sich verändern müssen. Aber ich frage mich, ob ihnen je bewußt wird, wann damit Schluß ist.«
Clavally schüttelte den Kopf. Gemeinsam schlenderten sie den Pfad zurück,
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