Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Karbunkel
B
ei allen Göttern, was mache ich hier?
Jarusha PalaThion senkte den Kopf und preßte sich die Fingerspitzen gegen die geschlossenen Augenlider. Bei dem unwirklichen Anblick, der sich ihr bot, hatte sie wieder einmal das bestürzende Gefühl, in einem fremden Traum gefangen zu sein. Als ihre Verwirrung nachließ, hob sie den Kopf und machte die Augen wieder auf. Sie stand tatsächlich zusammen mit anderen Menschen in der Halle der Winde und wartete auf die Sommerkönigin.
Immer noch kam es ihr so vor, als erklänge hoch droben in der Luft die Melodie der Göttin, und sie bildete sich ein, den kalten Atem der Meeresmutter auf ihrer Haut zu spüren. Der Raum, in dem die Zeit stillzustehen schien, war vom Geruch des Ozeans erfüllt, und der melodiöse Wind trug IHRE Stimme zu Jerusha und der kleinen Schar der Getreuen, die voller Andacht und Ehrfurcht am Rand der Grube standen und auf die Audienz mit der Königin warteten.
Drunten, dreihundert Meter tief, lauerte das Meer. Eine einzige schmale Brücke überquerte den Abgrund und stellte die Verbindung mit dem Palast her. Hoch über ihren Köpfen bauschten sich zarte Schleier im Wind und erzeugten hier drunten tückische Luftströmungen, die einen Menschen mit Leichtigkeit von der Brücke fegen konnten.
Die Herrin gibt,
hieß es,
und die Herrin nimmt.
»Die Herrin.«
»Die Herrin ...«
Man raunte ihren Namen, als die Sommerkönigin plötzlich auf der anderen Seite des Schachtes erschien. Jerusha holte tief Luft und senkte die Hände. Aufmerksam sah sie zu, wie die Königin, die Inkarnation der Göttin, vorsichtigen Schrittes die Brücke betrat. Ihr Gang war gemessen, die Haltung königlich; das milchweiße Haar umrahmte ihr Gesicht wie eine Wolke, und das sommergrüne Gewand wellte sich im Luftzug, an Gras oder gar an das Meer selbst erinnernd, über das der Wind streicht. Auf dem Kopf trug sie eine Krone aus Blumen und Vogelschwingen, in die funkelnde Edelsteine und das stilisierte Kleeblatt der Sibyllen eingearbeitet waren.
Die Herrin.
Verdammt!
Energisch schüttelte Jerusha den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Dann schaute sie wieder die Königin an, dieses Mal mit nüchternem Blick. Sie war keine Göttin, sondern ein achtzehn Jahre altes Mädchen namens Mond. Ihr Gesicht war von Anstrengung und Müdigkeit gezeichnet, und sie bewegte sich so unbeholfen, weil sie hochschwanger war. Auch das lose fallende Gewand vermochte die Schwellung des Leibes nicht mehr zu verbergen. Nichts an diesem Mädchen war mysteriös, genausowenig wie irgendeine Gottheit in dieser Halle präsent war.
Wieder wurde Jerusha daran erinnert, daß die Königin das genaue Abbild einer Frau war, deren Ambitionen sie in ihrem Herzen trug. Sie starrte Mond Dawntreader an und dachte darüber nach, welche seltsamen Wege das Schicksal gegangen war, um sie beide zu Gefangenen zu machen ...
In den Händen hielt die Königin ein Kontrollkästchen, das unentwegt eine Folge von hohen, durchdringenden Tönen erzeugte. Diese Töne bändigten die im ewigen Wind wildflatternden Schleier, und es entstand eine schmale Zone ohne Luftturbulenzen, durch die die Königin und ihre kleine Eskorte schreiten konnten. Das Kontrollkästchen stammte noch aus dem Alten Imperium, ebenso wie die Halle, der Schacht, die uralte, wie ein Schneckenhaus geformte Stadt, deren Spitze vom Palast der Königin gekrönt wurde. Der eigentliche Gott, der hier regierte, war die Technologie, und das wußte die Königin ebensogut wie Jerusha. Heute wollte Mond Dawntreader versuchen, die hier versammelten Leute mit der Wahrheit vertraut zu machen.
Plötzlich empfand Jerusha eine Anwandlung von Mitleid mit dem zierlichen Persönchen, das die Brücke überquerte. Um die neue Königin zu werden, hatte Mond Dawntreader das Gesetz der Außenweltler gebrochen.
Jerusha hielt sie für aufrichtig, und sie glaubte ihr, daß sie lautere Ziele verfolgte; deshalb hatte sie sie nicht deportieren lassen, sondern sie als die neue Königin akzeptiert. Zum Schluß hatte sie sogar ihren Posten als Polizeikommandantin aufgegeben, um nicht mehr der Hegemonie dienen zu müssen, die ihr und der Welt nur Unglück gebracht hatte. Als der Große Exodus stattfand, ging sie nicht mit, sondern blieb auf Tiamat und stellte sich in die Dienste der Sommerkönigin.
Als die Außenweltler anläßlich des Wechsels Tiamat verließen, wußte Jerusha PalaThion, daß sie sie niemals wiedersehen würde. Solange sie lebte, würden sie nicht zurückkommen. Sie
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