Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
schien mit einemmal von ihr abzufallen. »Wir sind Teile eines Netzwerks, das unsere Vorfahren schufen, noch ehe wir diesen Planeten bevölkerten.«
Die Sibyllen unter den Zuhörern hüllten sich enger in ihre Gewänder aus selbstgesponnenem Tuch und Kleyleder. Auf ihren Gesichtern malten sich die unterschiedlichsten Regungen ab. »Aber, Herrin ...« begann jemand und brach sofort wieder ab. »Wie kann die Herrin ...?« Um Worte verlegen blickte der Mann zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Dennoch bleibt ihr Geschöpfe der Meeresmutter, deren Geist euch durchdringt und umhüllt«, erklärte die Königin. Jerusha wußte indessen, daß Mond Dawntreader längst eine andere Überzeugung gewonnen hatte. In der Zeit, die sie auf Kharemough verbracht hatte, war ihr alter Glaube ins Wanken geraten, und sie hatte gelernt, daß es keine simplen Wahrheiten gab. »Ihr Segen ruht auf euch, weil ihr ihr selbstlos dient, wie es die Sibyllen auf allen Welten tun ...«
»Diese Gotteslästerung muß aufhören!«
Bei diesem Aufschrei drehten sich alle um. Jerusha erstarrte, als sie Capella Goodventure heranrauschen sah. »Wie, zum Teufel, ist die hier hereingekommen?« murmelte Jerusha. Nach dem letzten erbitterten theologischen Disput hatte die Königin allen Goodventures, und hauptsächlich ihren Ältesten, den Zutritt zum Palastbereich verboten. Jerusha hatte den Palastwachen befohlen, auf strikte Einhaltung des Verbots zu achten, aber auf die Loyalität der Wächter war nicht immer Verlaß. Irgend jemand hatte Capella Goodventure hereingelassen.
Mit strenger Miene trat Jerusha vor und nahm das Gewehr von der Schulter. Miroe griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. »Warte noch.« Er beobachtete die Menge, vor der Capella sich nun in Positur stellte. Jerusha nickte und senkte den Gewehrlauf. Langsam weitergehend, beschränkte sie sich aufs Zusehen.
»Diese Frau, die behauptet, sie sei eine von euch, lügt!« Capellas Stimme bebte vor Zorn. »Sie ist keine echte Sibylle, im Grunde gehört sie nicht einmal dem Sommervolk an. Sie hat das Gesicht und das Benehmen einer Winterfrau. Sie wollte mich daran hindern, die Wahrheit zu sagen – aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten!« Sie wandte sich an die Königin. »Verweigerst du mir immer noch das Recht zu sprechen? Oder läßt du mich von deinen Außenweltlern aus der Halle schleifen? Denn nur mit Gewalt bringt man mich ...«
Jerusha blieb stehen und sah die Königin fragend an.
Mond erwiderte ihren Blick und schaute dann wieder zu Capella Goodventure hin. »Sprich«, forderte die Königin die Clanälteste auf.
Capella Goodventure schien enttäuscht zu sein, daß die Königin ihr nicht mehr Widerstand bot. Sie holte tief Luft. »Ihr alle kennt mich. Ich bin die Anführerin des Clans, der in der Vergangenheit die Sommerköniginnen stellte. Und ich kam hierher, um euch zu warnen. Denn diese Frau, die sich Mond Dawntreader Sommer nennt, will euer Herz mit Zweifeln füllen. Ihr sollt alles in Frage stellen – euch selbst, und welchen Platz die Herrin in eurem Leben einnimmt. Sie will unseren Glauben und unsere Traditionen zerstören. Wir sollen werden wie das Wintervolk – elende Lakaien der Außenweltler, die unsere Gebräuche verachten und die heiligen Mers niedermetzeln.«
Jetzt wandte sie sich direkt an die Königin. »Du sprichst nicht auf Geheiß der Meeresmutter«, warf sie ihr vor. »Du bist nicht unsere auserwählte Königin. Du hast gar kein Recht, das Zeichen der Sibyllen zu tragen.«
»Das ist nicht wahr.« Mond hob das Kinn, damit alle das eintätowierte Kleeblatt an ihrem Hals sehen konnten.
»Jeder kann eine Tätowierung haben«, wehrte Capella Goodventure verächtlich ab. »Aber nicht jeder gleicht der Königin des Wintervolks aufs Haar. Es gibt gar keine Mond Dawntreader Sommer. In Wirklichkeit bist du die Schneekönigin Arienrhod – ich weiß zwar nicht, wie es möglich war, aber du hast dem Tod und den Außenweltlern ein Schnippchen geschlagen. Zuerst stiehlst du der rechtmäßigen Sommerkönigin den Platz, und jetzt besudelst du auch noch Unsere Meeresmutter mit diesem Schmutz!« Ihr Gesicht glühte vor Zorn, der, wie Jerusha wußte, nicht gespielt war.
Eine Frauenstimme rief: »Ich kenne Mond Dawntreader.«
Capella Goodventures breites, runzliges Gesicht verzerrte sich, während sie angestrengt nach der Zwischenruferin Ausschau hielt. Eine schwarzhaarige, untersetzte Inselbewohnerin von schätzungsweise fünfunddreißig Jahren drängte sich
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