Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind es bloß die Einflüsterungen der Schneekönigin, die sie hört, und nichts anderes.«
Miroe schwieg eine längere Zeit. »Sie ist wirklich mit dem Sibyllennetz verbunden«, sagte er dann.
Ohne ihn anzusehen, rückte sie den Schulterriemen ihres Gewehrs zurecht. In Momenten wie diesen spürte sie, daß Welten sie voneinander trennten; sie hatten eine unterschiedliche Vergangenheit, und sie teilte nicht seinen Glauben, der ihn mit der Königin verband.
Nun begann Mond Dawntreader zu sprechen. Die Einheimischen, von denen fast alle Sibyllen waren, neigten den Kopf, als die Königin sie begrüßte. Die Inselbewohner schienen von der Umgebung und dem Kleeblattsymbol der Königin tief beeindruckt zu sein, obwohl die Herrscherin mit einer dünnen, unsicheren Stimme sprach, die im Stöhnen des Windes beinahe unterging. Funke Dawntreader, der rothaarige Jüngling, mit dem die Königin vermählt war, stand dicht neben ihr, den Arm schützend um sie gelegt.
Hinter ihnen stand eine Frau mittleren Alters, deren graumeliertes Haar zu einem dicken Zopf geflochten war. Sie trug das gleiche Kleeblattsymbol wie die Königin. Mit leerem Blick und verschlossener Miene starrte sie geradeaus, während eine unscheinbare, kleinwüchsige Frau ihr etwas ins Ohr murmelte – wahrscheinlich beschrieb sie ihr die Szene.
»Danke, daß ihr gekommen seid«, sagte Mond, wobei ihre bleichen Hände nervös mit dem Stoff ihres Gewandes spielten. Es klang banal, doch man merkte es ihr an, daß der Dank aufrichtig gemeint war. Sie wußte, daß die Leute, die ihr in stiller Ehrerbietung gegenüberstanden, lange und beschwerliche Reisen auf sich genommen hatten, um ihrer Einladung zu folgen.
»Ich ...« Sie zauderte, wie wenn sie nach Worten suchte, und Jerusha spürte, wie sie kurz in Panik geriet. »Ich habe alle Sibyllen des Sommervolks gebeten, in die Stadt zu kommen, weil ...« Unsicher senkte sie den Blick, und als sie wieder hochschaute, lag in ihren Augen die schmerzliche Erkenntnis, daß nur die beiden Außenweltler sie verstehen würden. »Weil die Herrin zu mir gesprochen und mir eine Wahrheit offenbart hat, die ich euch allen mitteilen muß. Das Meer hat es immer gut mit uns gemeint und es uns an nichts fehlen lassen. Immer haben wir geglaubt, daß die Meeresmutter durch die Personen zu uns sprach, die das Zeichen der Sibyllen tragen.« Verlegen fingerte sie an ihrem Kleeblatt. »Nun jedoch hat sie sich dazu entschlossen, uns eine umfassendere Wahrheit kundzutun.« Mond biß sich auf die Lippe und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
O Götter,
dachte Jerusha.
Jetzt ist es passiert; jetzt gibt es kein Zurück mehr.
»Wir sind nicht die einzigen Sibyllen«, verlautbarte die Königin mit Nachdruck. »Sibyllen gibt es überall – auf allen Welten der Hegemonie. Ich war auf einer Außenwelt, ich habe dort Sibyllen gesehen.«
In die Zuhörer, die bis jetzt wie gebannt geschwiegen haben, kam Leben. Sie waren fassungslos vor Staunen.
»Ich habe dort Sibyllen gesehen!« Sie hob die Hände, und es herrschte wieder Stille. »Ich habe den Planeten Kharemough besucht. Dort tragen die Sibyllen dasselbe Zeichen wie wir, und um in den Transfer zu gehen, benutzen sie dieselben Formeln. Sie besitzen dasselbe Wissen wie wir. Und auch auf Kharemough sagt man ...« – mit einem schelmischen Lächeln sah sie ihren Gemahl an und legte die Hände auf ihren gewölbten Leib –, »es bedeute den Tod, eine Sibylle zu töten, eine Sibylle zu lieben und eine Sibylle zu sein ... Gleichzeitig bewies man mir, daß es nicht so kommen muß.« Sie drehte sich um, nahm die blinde Frau beim Arm und ließ sie an ihre Seite treten. »Fate Ravenglass ist eine Sibylle, wie ihr und wie ich. Aber sie gehört dem Wintervolk an.«
»Wie ist das möglich ...?« »Das kann nicht sein ...«
Wieder fingen die Zuhörer erstaunt an zu murmeln. Die Königin wartete, bis sich die Aufregung gelegt hatte.
»Es stimmt«, sagte Fate langsam, sobald sie sich Gehör verschaffen konnte. »›Fragt, und ich werde euch antworten.«‹ Mit gefühlvoller Stimme sprach sie die rituelle Formel. »Mein halbes Leben lang verbarg ich dieses Geheimnis vor den Außenweltlern und vor meinem eigenen Volk. Die Außenweltler haben über uns Sibyllen bewußt Lügen verbreitet.«
»Wir sind Bestandteil einer Gesamtheit, die großartiger ist, als wir es uns träumen lassen«, sagte Mond Dawntreader. Sie machte ein paar Schritte nach vorn, alle Unsicherheit
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