Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
bis in alle Ewigkeit hätschelte.
Als er durch die schwere, eisenbeschlagene Tür ins Haus trat, sah er Miroe und Mond an einem niedrigen Tisch sitzen, der mit handgeschriebenen Dokumenten übersät war. Die bizarre Mischung von Außenweltler-Komfort und schlichter, einheimischer Möblierung verlieh dem Haus seinen einzigartigen Charakter.
Beide blickten hoch, Mond überrascht, Ngenet mit einem Anflug von Groll. »Was willst du?« herrschte er Funke an.
»Du sollst dir meine Ideen anhören, Ngenet.« Funke richtete sich zu seiner vollen Größe auf und stemmte die Hände auf die Hüften. »Von mir aus mach die Augen zu, wenn du meinen Anblick nicht ertragen kannst, aber laß mich reden.«
Ngenet erstarrte und sah Mond an. Doch Mond hatte nur Augen für Funke. Stolz und eindringlich schaute sie auf ihren Gatten, und das gab ihm die Gewißheit, daß er richtig handelte. Er faßte neuen Mut.
Unaufgefordert setzte er sich zu ihnen an den Tisch, so daß sie jetzt zu dritt waren. Nach einer Weile schien sich Ngenet zu fügen. Ostentativ die Augen schließend, forderte er Funke zum Sprechen auf. »Ich höre«, sagte er barsch.
Funke, der sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sah, holte tief Luft. An Ngenet vorbei schaute er in das flackernde Kaminfeuer. »Schon als Junge, als ich noch auf den Inseln lebte, spielte ich Flöte.« Er berührte das Futteral an seinem Gürtel, in dem er die Muschelflöte aufbewahrte. »Ich kannte sämtliche alten Lieder, die gesungen wurden, doch wenn ich sie auf meiner Flöte spielte, klangen sie anders. Sie erinnerten mich an die Gesänge der Mers; der Aufbau, das Timbre, die Intervalle zwischen den Tönen und die Klangfarbe waren gleich. Damals erkannte ich noch keinen Zusammenhang.« Lächelnd sah er Mond an und erinnerte sich an jene Zeit, an ihre verlorene Welt. »Aber mein Gehör merkte sich alles. Nachdem ich in die Stadt kam und ...« –
und Arienrhod von mir Besitz ergriff – »...
und Zugang zu bestimmten Daten bekam, die die Außenweltler gesammelt hatten, lernte ich die Mathematik der Musik. Was ich für Instinkt und schönen Klang gehalten hatte, war im Grunde ein Schema, ein System, ein Netzwerk; jede Note hat ihre exakte Resonanz und Wellenlänge und befindet sich in einer genau umgrenzten Relation zu allen anderen Noten ...«
»So?« warf Ngenet ungeduldig ein.
»Ich habe die Gesänge der Mers und unsere Lieder miteinander verglichen, ich verglich sie sogar mit den Klängen des Kontrollkästchens, das wir früher benutzten, um die Halle der Winde zu durchqueren.« Er merkte, wie Mond verblüfft den Kopf hob und ihn mit einem sonderbaren, unergründlichen Ausdruck anstarrte. Doch anstatt sie zu fragen, was sie bewegte, fuhr er mit seinem Bericht fort, solange er noch die Chance dazu hatte.
»Wo bleibt die Pointe?« schnauzte Ngenet. »Verschwende nicht meine Zeit.« Sei wettergegerbtes Gesicht lag in tiefen Falten, die dunklen, verhüllten Augen blickten kalt und erbarmungslos. Ngenet war der letzte Abkömmling einer Familie von Außenweltlern, die sich im Outback von Tiamat angesiedelt hatte, und er liebte diese Welt von ganzem Herzen. Er hatte versucht, die Mers auf seiner Plantage vor den Jägern zu schützen. Aber am Ende des Winters hatte Arienrhod ihren Starbuck zu einer letzten, illegalen Ernte ausgeschickt. An jenem schrecklichen Tag am Strand von Ngenets Plantage waren ihre verschiedenen Schicksale aufeinandergeprallt, weil die Schneekönigin es so wollte.' Und sie alle hatten Narben davongetragen.
Funke schaute Mond an und erkannte in ihren Augen den gleichen Schmerz, den er selbst empfand. Die sich verändernden Farben der Augen waren wie Erinnerungen, schillernde Spiegelbilder auf einer Wasserfläche. Er schluckte, weil plötzlicher Kummer seine Kehle zuschnürte.
»Ich ... ich glaube, daß Segmente in den Gesängen der Mers fehlen. Bestimmte Passagen ihrer Lieder ergeben ein Muster ein System, sie könnten Teile eines größeren Ganzen sein. Doch es gibt Lücken ...« Vor Jahren, vielleicht aus einer selbstquälerischen Anwandlung heraus, hatte er angefangen, mit Mond über Ngenets Arbeit zu reden. Doch sein Bedürfnis, sich auszusprechen, hatte sich dann in ein echtes Interesse an den Gesängen der Mers verwandelt, deren Musikalität ihn faszinierte und seine Neugier weckte.
Er hatte die aufgezeichneten Daten studiert, bis er sicher war, die Lieder der Mers müßten etwas vollkommen anderes sein als die simple Lautsprache, mit der sie sich
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